Ipf- und Jagst-Zeitung

So wird ein Schuh draus

Jenseits von Globalisie­rung und Gewinnmaxi­mierung – Zu Besuch in einer einzigarti­gen Schuhwerks­tatt im österreich­ischen Waldvierte­l, die lokal, sozial und nachhaltig produziert

- Von Markus Wanzeck

Ihre ersten Schritte machen diese Schuhe schon lange bevor sie getragen werden. In der Waldviertl­er-Fabrikhall­e in Schrems, Oberösterr­eich, ist der erste Schritt das Einkleben der Hinterkapp­e, die das lederne Oberteil des Schuhs im Fersenbere­ich stabilisie­rt. Im zweiten Schritt wird das Oberteil bei gut 100 Grad Celsius in Form gepresst, eine halbe Minute lang. Wichtig sei, dass keine Falten entstehen, sagt Barbara und nimmt einen gerade entstehend­en, wandertaug­lichen Lederstief­el, der bis über die Knöchel reicht, von der Alu-Form: „No ganz haaß.“

Schuhprodu­ktion in Schrems: eine ziemliche Sensation eigentlich. Ein Anachronis­mus. Viel zu teuer in globalisie­rten Zeiten. Spätestens gegen Ende des vergangene­n Jahrhunder­ts sind die deutschen, die schweizeri­schen, die österreich­ischen Schuhe zum allergrößt­en Teil nach Ostasien ausgewande­rt. Wie die Radios. Die Fernseher. Die Computer. Hier aber, in einer 5000Seelen-Stadtgemei­nde kurz vor der tschechisc­hen Grenze, zwei Autostunde­n nordwestli­ch von Wien, wurde die Zeit zurückgedr­eht.

In der Wirtschaft­swunder-Ära war das Waldvierte­l noch der Ferne Osten Westeuropa­s. Direkt vor dem Eisernen Vorhang gelegen, niedrige Wohn- und Arbeitskos­ten. Hier standen die Werkbänke der freien Welt. Die Textilfabr­iken florierten. Als die Fabriken Anfang der 1980erJahr­e immer zahlreiche­r in den echten Fernen Osten übersiedel­ten, wandelte sich das Waldvierte­l zur Krisenregi­on. Von den einst 15 000 Jobs in der Textilbran­che sind ein paar Hundert geblieben.

„In ganz Europa stirbt der Schuhmache­r aus“, sagt Harald Habinger, 39, Produktion­sleiter der Waldviertl­er-Schuhwerks­tatt und seit rund 23 Jahren im Betrieb. Für seine Kollegen und überhaupt jeden ist er nicht der Herr Habinger, sondern der Harald. Harry passt auch. Auf das Du legen sie großen Wert bei den Waldviertl­ern.

„Die meisten Firmen gehen nach Indien, China und hast du nicht gesehen“, sagt Harald. „Wir wollen den Schuhmache­rberuf wiederbele­ben.“Seit 35 Jahren schafft die Werkstatt Arbeitsplä­tze für Schuster, über die Jahre immer mehr. Die Waldviertl­er haben sich, womöglich zu ihrer eigenen Überraschu­ng, eine Nische geschaffen, in der sich leben lässt – als Anti-Globalisie­rungsfirma, die lokal, sozial und nachhaltig produziert. Nicht billig, denn ein Preiskampf wäre nicht zu gewinnen, dafür hochwertig und langlebig.

Es braucht Kunden, die für Schuhe relativ viel Geld bezahlen. Und Mitarbeite­r, die diese für relativ wenig Geld fertigen. Nicht immer findet sich genug Nachwuchs, der dazu bereit ist. „Die Jungen heute wollen oft nichts Handwerkli­ches machen“, sagt Harald. „Die wollen viel Geld für wenig Arbeit.“Nicht ganz kompatibel mit der Waldviertl­er-Welt. Ein Schuhmache­rEinkommen, sagt Harald, „beginnt so bei zwölfhunde­rt Euro netto“.

Damit lassen sich auch im Waldvierte­l keine Bäume ausreißen.

Auf der anderen Seite bieten die Waldviertl­er ihren Mitarbeite­rn, was Harald „Sonderkond­itionen“nennt: Mehrmals die Woche kommt ein Masseur. Ebenso ein Firmenarzt. Einmal die Woche lädt die Firma zum gemeinsame­n Mittagesse­n. Statt Lohn- gab’s für die Waldviertl­er Lebensqual­itätserhöh­ungen. Dazu zählt Harald auch den frühen Beginn des Arbeitstag­es: „Sechs bis vierzehndr­eißig: Des is die idealste Zeit.“Weil man den Nachmittag nicht in der Fabrik verbringen muss, wenn im Sommer die Hitze drückt. Weil man, wenn das Tagwerk getan ist, noch viel vom Tag hat.

Halb elf, der Stiefel macht seine nächsten Schritte. Der Markus übernimmt das blaue Wägelchen mit dem Schuh. Er taucht einen Pinsel in einen Topf mit Kleber und bestreicht damit die Unterseite der Innensohle. Mit der Seitenzwic­kmaschine zwickt er das Oberleder seitlich und an der Ferse fest. Zum Schluss entfernt er mit einer Zange die Klammern, mit denen Brigitte den Leisten an den Schuh getackert hat. Nicht mehr nötig. Der Schuh ist nun stabil.

Nach einigen weiteren Zwischensc­hritten werden Schuhe und Sohlen eingeleimt, wird das Wägelchen zu einer offenen Tür geschoben, wo schon andere Wagen an der Frischluft stehen. 20 Minuten Trocknen heißt es hier.

Wer in solch einem Päuschen ein paar Schritte in den Innenhof geht, dem kann es passieren, dass er dort einen Mann mit grauen Zottellock­en trifft, der konzentrie­rt eine Flüssigkei­t in die hochstehen­de Wiese sprüht. „Kennst des?“, fragt er mit Blick auf die Sprühflasc­he. „Effektive Mikroorgan­ismen.“Ganz natürlich, ganz bio. Zum Beweis sprüht er sich eine Ladung in den Mund.

Was für ein sympathisc­her, verschrobe­ner Gärtner, könnte man meinen. Es ist nicht der Gärtner. Es ist der Chef. Heini Staudinger, Mitte sechzig, eigenbrötl­erischer Eigentümer und geschäftsf­ührende Galionsfig­ur der Waldviertl­er Werkstätte­n, die inzwischen allein am Hauptsitz in Schrems rund 170 Mitarbeite­r haben und über ein Netz von mehr als 50 Verkaufslä­den („Gea“) in Österreich, Deutschlan­d und der Schweiz verfügen.

Gegründet wurde die Schuhwerks­tatt 1984 von Karl Immervoll, dem Religionsl­ehrer der Schremser Berufsschu­le, mit Unterstütz­ung des damaligen Sozialmini­sters Alfred Dallinger, der, so Staudinger, „im Herzen ein Kommunist war“. Das Ziel: ein paar Arbeitsplä­tze für den darniederl­iegenden Landstrich. Die Arbeitende­n wurden zugleich Miteigentü­mer. Ein kollektivw­irtschaftl­icher Betrieb. „Verrückter­weise“, sagt Staudinger, „ist diese Gründung geglückt.“Dass die Waldviertl­er-Erfolgsges­chichte in einer Krisenregi­on ihren Anfang nahm, ist für ihn indes kein Zufall: „Da gibt’s Spielräume. Es ist so viel so dermaßen kaputt, dass die Bürokratie es kaum schafft, irgendetwa­s zu verweigern.“

Staudinger hat von Beginn an an der Waldviertl­er-Geschichte mitgeschri­eben, zunächst als wichtigste­r Kunde. 1980 hatte er in Wien sein erstes Schuhgesch­äft eröffnet – obwohl er weder viel Ahnung von Schuhen noch das nötige Geld dafür hatte. Doch als er zum ersten Mal die dänischen Ökoschuhe „Earth Shoes“sah, ahnte er, der schon als Kind im Tante-EmmaLaden seiner Eltern mitarbeite­te, dass diese auch in Österreich Potenzial haben. Er trampte nach Dänemark, kaufte Schuhe für 300 000 Schilling, das Geld schnorrte er bei Freunden. Bald konnte er weitere Filialen eröffnen. Das Geschäft lief sehr ordentlich.

Für das kommunisti­sch angehaucht­e Schremser Schuhkolle­ktiv galt das weniger. 1994, zehn Jahre nach Gründung, übernahm Staudinger die Manufaktur mitsamt ihrer inzwischen angehäufte­n Schulden. Noch einmal gut zehn Jahre später war der Schuldenha­ufen abgetragen. 2006 fusioniert­e Staudinger die Fabrik mit seiner Schuh- und Möbelladen­kette „Gea“.

2008 geschah etwas, das Heini Staudinger einen „Knick in der Umsatzentw­icklung nach oben“nennt. In jenem Jahr ging die USInvestme­ntbank Lehman Brothers in Konkurs: „Da, glaub ich, sind wir Gewinner geworden, weil das Misstrauen der globalen Wirtschaft gegenüber gewachsen ist. So sind wir, als Fahnenträg­er einer regionalen Wirtschaft, verstärkt zu Sympathien gekommen.“Ein noch dramatisch­erer Knick nach oben folgte, als die Waldviertl­er mit der österreich­ischen Finanzmark­taufsicht (FMA) aneinander­gerieten.

Heini Staudinger, die Gängeleien durch Banken leid, hatte 2003 einen

„Sparverein“gegründet, über den er sich, gegen Zinsen, Geld bei Freunden und Unterstütz­ern der Waldviertl­er lieh. Als die FMA 2012 hellhörig wurde und illegale Bankgeschä­fte witterte, verbot sie dem Verein das Geldeinsam­meln und drohte mit einem Bußgeld von bis zu 50 000 Euro. Außerdem sollte Staudinger drei Millionen Euro, die er sich von rund 200 Geldgebern geborgt hatte, binnen sechs Wochen zurückzahl­en – eine existenzbe­drohende Auflage.

Staudinger schaltete auf stur. Das Spielfeld für eine öffentlich­keitswirks­ame Asterixiad­e zwischen einem kleinen gallischen Dorf (Waldviertl­er) und den Schergen eines übermächti­gen Römischen Reiches (FMA) war bereitet. Das Spiel ging überaus gut aus für die Waldviertl­er. Zwar gab es juristisch nix zu gewinnen, Staudinger wurde zu einer Verwaltung­sstrafe von 2626 Euro verurteilt. Doch fürs Geschäft war der Zwist wie Zaubertran­k. Medienvert­reter gaben sich im Hauptquart­ier der widerspens­tigen Waldviertl­er die Klinke in die Hand. Heini Staudinger wurde zum Promi. „Vor allem, weil viele Leute in mir etwas gesehen haben, was sie sich von sich selber wünschen“, glaubt er. „Irgendwie: zum Wahnsinn nein zu sagen.“

Im Waldvierte­l führte dieser Wahnsinn zu einem neuen kleinen Wirtschaft­swunder. Innerhalb von fünf, sechs Jahren, erzählt Heini Staudinger mit leuchtende­n Augen, verdreifac­hte sich der Waldviertl­erUmsatz. Seitdem hat er sich bei gut 30 Millionen Euro eingepende­lt, ungefähr zwei Drittel davon entfallen auf die Schuhe. 2015 schließlic­h trat in Österreich das Alternativ­finanzieru­ngsgesetz in Kraft, das Crowdfundi­ng nach Waldviertl­erArt legalisier­te. „Das Gesetz besagt, dass alles, was mir verboten war, jetzt allen erlaubt ist“, erklärt Heini Staudinger, fast feierlich. „Das ist doch was.“

Es ist früher Nachmittag, als der Lederstief­el, nach einigen Stunden und rund einem Dutzend Stationen in der Werkhalle, fast fertig ist. 630 Grad heiß ist die Luft, mit der Nicole die letzten überstehen­den Nähte des Schuhs wegschmilz­t. Noch ein paar Spritzer Imprägnier­mittel. Ein allerletzt­er Kontrollbl­ick. Dann gibt Nicole eine Nummer in den Computer ein: 31 191716 E43 00. Haken dran. Feierabend für heute.

Es ist noch viel Tag übrig.

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