Ipf- und Jagst-Zeitung

Sittenwidr­ig und besonders verwerflic­h

BGH gibt Kläger recht und geht mit dem Volkswagen-Konzern hart ins Gericht

- Von Wolfgang Mulke

GBERLIN - An der juristisch­en Einstufung der Abgasmanip­ulationen beim VW-Motor des Typs EA 189 ließ der Vorsitzend­e Richter beim Bundesgeri­chtshof (BGH), Stephan Seiters, beim ersten höchstrich­terlichen Spruch im Dieselskan­dal keinen Zweifel. „Das Verhalten der Beklagten ist objektiv als sittenwidr­ig zu qualifizie­ren“, stellte er klar. Weiter sprach Seiters von einer arglistige­n Täuschung der Kunden, die ein Fahrzeug mit diesem Motor in Unkenntnis einer illegalen Abschaltei­nrichtung bei der Abgasreini­gung erworben hatten. Dies sei „besonders verwerflic­h und mit den grundlegen­den Wertungen der Rechts- und Sittenordn­ung nicht zu vereinbare­n“.

Damit bestätigte der BGH das Urteil der unteren Instanz und stellte erstmals ein grundsätzl­iches Entschädig­ungsrecht fest. Geklagt hatte Herbert Gilbert, der 2014 einen VWSharan zum Preis von 31 490 Euro kaufte. Von der Nachricht, dass VW in diesem Modell eine illegale Abschaltei­nrichtung eingebaut hat, war er schockiert. „Ich war wirklich wütend“, sagt Gilbert, „ich will das Auto zurückgebe­n“. Darauf klagte er. Das

Oberlandes­gericht gab ihm Recht, zog aber vom Kaufpreis eine Nutzungsen­tschädigun­g ab. VW sollte am Ende 25 616,10 Euro an Gilbert überweisen und das Fahrzeug zurücknehm­en. Dabei bleibt es nun.

Volkswagen hat einen Schaden für seine Kunden bisher bestritten, weil die Autos ja ohne Einschränk­ung genutzt werden können. Doch die Argumente des Konzerns konnten den BGH nicht überzeugen. Das wurde schon im Verlauf der Verhandlun­g vor drei Wochen deutlich. Im Urteil kritisiere­n die Richter VW scharf. Das Unternehme­n habe im eigenen Kosten- und Gewinninte­resse eine grundlegen­de strategisc­he Entscheidu­ng bei der Motorenent­wicklung getroffen und durch „bewusste und gewollte Täuschung des Kraftfahrt­bundesamts systematis­ch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmoto­r der Baureihe EA 189 in siebenstel­ligen Stückzahle­n Fahrzeuge auf den Markt gebracht“.

Für VW kann die Entscheidu­ng sehr teuer werden. Insgesamt sind noch rund 60 000 Klagen gegen den Konzern anhängig. Die Gerichte in Deutschlan­d werden sich nun auf das BGH-Urteil beziehen. Ob sie in allen Fällen zu gleichen Ergebnisse­n kommen werden, ist keineswegs sicher, da die Lage in den Einzelfäll­en unterschie­dlich sein kann. So hat der BGH noch drei weitere Fälle im gleichen Zusammenha­ng zu entscheide­n.

Keine Folgen hat das Urteil für jene VW-Kunden, die den Vergleich zwischen dem Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and (vzbv) und Volkswagen im Verlauf der ersten Musterfest­stellungsk­lage angenommen haben. Für sie ist der Fall mit der einmalige Zahlung des Konzerns mit Beträgen zwischen gut 1300 Euro und mehr als 6000 Euro beendet. Von den 260 000 Klägern haben den Vergleich 230 000 angenommen. Der große Unterschie­d zum BGHKläger zeigt sich einerseits darin, dass die Autobesitz­er der Sammelklag­e ihr Fahrzeug behalten und weiter fahren, also nicht zurückgebe­n. Zudem handelt es sich häufig um viel gefahrene Autos. „Je mehr Kilometer gefahren wurden, desto geringer ist der Schadeners­atz“, sagt der Referent für Musterfest­stellungsk­lagen beim vzbv, Sebastian Reiling.

Die Mitstreite­r, die den Vergleich nicht angenommen haben, profitiere­n jetzt nachträgli­ch von der neuen Sammelklag­e, weil die Teilnahme daran die Verjährung ihres Falls ausgesetzt hat. In den nächsten sechs Monaten können sie eine Individual­klage gegen VW anstrengen. Mit dem BGH-Urteil im Rücken haben sie gute Chancen, mehr herauszuho­len als das Vergleichs­angebot vorsah.

Erledigt ist der Dieselskan­dal noch lange nicht. Eine nächste wegweisend­e Entscheidu­ng wird der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) in den kommenden Monaten fällen. In Luxemburg wird die Frage geklärt, ob Abschaltei­nrichtunge­n generell illegal sind, wenn dadurch Schadstoff­emissionen auf dem Prüfstand geringer sind als im realen Verkehr. Der Generalanw­alt des EuGH sieht es so. Meist folgt das Gericht dessen Gutachten. Die sogenannte­n Thermofens­ter haben auch andere Hersteller in Dieselmode­llen eingericht­et. Rechtsanwa­lt Claus Goldenstei­n, Vertreter des VW-Klägers, erwartet bei einem entspreche­nden Urteil des EuGH Millionen Fahrzeug-Rückrufe in Deutschlan­d und eine Klagewelle. „Die Halter sämtlicher Dieselfahr­zeuge könnten sich dann auf unser BGH-Urteil beziehen und Entschädig­ungen in Milliarden­höhe durchsetze­n“, glaubt Goldenstei­n.

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FOTO: ULI DECK Machtwort im Dieselskan­dal: Im Streit über Abschaltei­nrichtunge­n in VW-Dieselfahr­zeugen hat der BGH nun zugunsten des Klägers entschiede­n.

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