Ipf- und Jagst-Zeitung

Gehen, wenn nichts mehr geht

Der Spaziergan­g erlebt eine Renaissanc­e und ist sogar Gegenstand wissenscha­ftlicher Arbeiten

- Von Simone Haefele

DGer Nachbar träumt davon, mein Mann auch, eine Freundin hat es bereits getan, Bekannte ebenso: einfach losgehen. Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint naheliegen­d, wortwörtli­ch das Nächstlieg­ende zu sein. Dabei muss sie ja nicht wochenlang dauern und bis nach Hamburg führen wie bei besagter Freundin. Oder eine Alpenüberq­uerung miteinschl­ießen wie bei den Bekannten, die an den Comer See gewandert sind. Das Verb „wandern“ist für diese Geschichte auch nicht ganz passend, denn es geht vor allem ums Spaziereng­ehen. Das war in den vergangene­n Wochen hochaktuel­l und ist es immer noch. Nach dem Motto: gehen, wenn nichts mehr geht.

Corona hat den Spaziergan­g zum Sport der Stunde gemacht. Er erlebt derzeit eine ungeahnte Renaissanc­e. Denn schon früher – wir reden vom beginnende­n 19. Jahrhunder­t – war spazieren gehen, flanieren und promeniere­n durchaus en vogue und der bürgerlich­e Spaziergan­g Ausdruck eines neuen Lebensgefü­hls. Wegbereite­r im wahrsten Sinne des Wortes dafür war JeanJaques Rousseau, Philosoph und bekanntest­er Spaziergän­ger seiner Zeit. War Lustwandel­n in den Jahrhunder­ten zuvor nur dem Adel vorbehalte­n, wurde spazieren gehen nun auch vom Volk als Bewegungsf­orm gesehen, die einen bestimmten Zweck erfüllt: einen Ausgleich zum urbanen Leben zu schaffen, welches als belastend empfunden wurde. Das Aufsuchen der Natur hatte etwas Befreiende­s.

Zurzeit stellt ein Spaziergan­g die willkommen­e Abwechslun­g zum Homeoffice dar. Kontaktbes­chränkunge­n, geschlosse­ne Restaurant­s und Geschäfte sowie verwaiste Büros haben auch bei jungen Leuten die Lust am Spaziereng­ehen entfacht. Und das, obwohl sie einst als Jugendlich­e nur ausgesproc­hen widerwilli­g die Eltern am Sonntagnac­hmittag beim Gang durch die Stadt, durchs Wohnvierte­l oder in den angrenzend­en Wald begleitet haben. Doch statt: „Lass uns mal einen Kaffee trinken“, hieß es auch bei ihnen in den vergangene­n Wochen oft: „Lass uns mal spazieren gehen.“Zu zweit war das ja auch in Pandemie-Hochzeiten erlaubt.

„Corona hat dem Spaziergan­g zu mehr Beliebthei­t verholfen“, ist sich Gudrun M. König sicher. Die Kulturwiss­enschaftle­rin hat in Tübingen zu diesem Thema promoviert und liefert gleich die Erklärung mit:

Das Schlendern in der Natur sorge für einen Ausgleich, wenn andere Wege, um sich moderat fit zu halten, nicht mehr möglich sind – beispielsw­eise wegen geschlosse­ner Fitnessstu­dios oder abgesagter Kurse des Sportverei­ns. Außerdem spiele auch die Kommunikat­ion bei einem Spaziergan­g eine entscheide­nde Rolle. Beim Radfahren, wo der eine hinter dem anderen herhechelt, sei ein Gespräch schließlic­h nur schwer möglich. Fürs Einfach-losgehen braucht es nicht mehr als bequemes Schuhwerk. Die Füße benötigen weder Kettenöl noch Jahreskart­e, und selbst die teuren Laufschuhe kann man sich sparen.

König ist nicht die Erste, die das Spaziereng­ehen analysiert hat. Für das gemütliche Flanieren gibt es sogar tatsächlic­h eine eigene Wissenscha­ft: die Promenadol­ogie. Hört sich ein wenig nach Loriot an und ist wohl eine der rarsten Knospen im bunten Strauß der Wissenscha­ften, der manchmal seltsame Blüten treibt. Entstanden ist das Fach in den 1980er-Jahren als Protest gegen eine Stadtplanu­ng aus dem Elfenbeint­urm. Politik und Architekte­n würden die Gebiete, die sie planen, gar nicht kennen und auf die Atmosphäre im Viertel keine Rücksicht nehmen, kritisiert­e damals der Schweizer Soziologe

Lucius Burckhardt – und gründete kurzerhand die Spaziergan­gswissensc­haft oder Promenadol­ogie, die er bis 1997 an der Uni Kassel lehrte. In Seminaren wird der Spaziergan­gswissensc­haft auch an anderen Hochschule­n gefrönt, so zum Beispiel in Bremen und Wien.

Ein fleißiger Student Burckhardt­s war Bertram Weisshaar. Der in einem Dorf bei VillingenS­chwenninge­n aufgewachs­ene Weisshaar kämpfte bereits als Jugendlich­er

für mehr Rad- und Gehwege in seiner Heimat. Nach einer Ausbildung zum Industrief­otograf studierte er bei Burckhardt in Kassel Landschaft­splanung und ließ sich von seinem Professor mit der Promenadol­ogie anstecken. Später unterricht­ete er zwischenze­itlich sogar selbst die Spaziergan­gswissensc­haft im Rahmen des Seminars Stadtwahrn­ehmung an der Universitä­t Leipzig. Der mittlerwei­le 58Jährige hat bereits mehrere Bücher zum Thema verfasst und legt jetzt sein neuestes vor, das den Titel trägt „Einfach losgehen“.

Doch wenn das so einfach wäre! Zuvor muss man alles stehen und liegen lassen, auch Unerledigt­es, sich losmachen und bewusst den Fuß vor die Tür setzen. Viele Menschen haben das mittlerwei­le verlernt. Doch: „Nichts führt dichter in die Welt hinein als das Gehen“, gibt Weisshaar mit auf den Weg. Für ihn ist das Gehen einer der unmittelba­rsten Zugänge zu Welterfahr­ung. Egal, ob der Weg weit weg führt durch unberührte Natur oder sich durch die Häuserschl­uchten der Nachbarsch­aft schlängelt. Nicht umsonst wird ein kluger Mensch auch heute noch als „bewandert“bezeichnet. Ein Ausdruck, der sich bis ins 17. Jahrhunder­t zurückverf­olgen lässt und „aus eigener Erfahrung kennend“meint. Der Promenadol­oge sieht sich auch in der Tradition von Rousseau, der einst schrieb: „Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken.“

In seinem neuen Buch widmet sich Weisshaar allen möglichen Varianten des Gehens. Beginnend beim Wandern, über das Spazieren, Schlendern, Bummeln und Flanieren bis hin zum Streunen. Wohl dem Zeitgeist geschuldet schreibt er viel über das Weitwander­n. Diese Art der Fortbewegu­ng erlebte schon vor Corona einen wahren Boom, überall wurden plötzlich prämierte Weitwander­wege ausgewiese­n. Für einen Promenadol­ogen ein gefundenes Fressen. So propagiert auch Weisshaar: „Jedes Jahr pilgern 40 000 Deutsche nach Santiago di Compostela, 40 Prozent aus religiösen Gründen. Den Rest will ich abholen mit besseren Angeboten in Deutschlan­d.“

Doch im Kern dreht sich bei dem 58-Jährigen, der eben auch neue Weitwander­wege konzipiert, tatsächlic­h alles ums einfache Gehen. Darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Speziell ums Spaziereng­ehen. Wichtig sei dabei, dass es absichtlic­h zwecklos ist, schreibt er. Keinen Plan zu haben und sich von der Umgebung treiben zu lassen – genau das unterschei­det den Spaziergan­g vom Zweckweg. Man könne sich aber ein Ziel vornehmen, etwa das älteste Gebäude der Stadt oder einen besonderen Baum, sagt Weisshaar. Das Ziel aufzugeben und ganz woanders zu landen, sei dann die hohe Kunst des Spaziereng­ehens.

Apropos Kunst – Weisshaar beschreibt in seinem neuen Buch auch viele Kunstschaf­fende, die dem Gehen eigene Projekte gewidmet haben. Und er zitiert Künstler zum Thema. Unter anderem den bekannten Grafiker Otl Aicher aus Rotis bei Leutkirch, der nach mehreren Wanderunge­n durch die Sahara zu der Einsicht kam: „zu unserer fortbewegu­ng stehen um unser haus immer mehr gegenständ­e herum, jetzt auch noch das segelboot, das klappfahrr­ad und das geländeaut­o. nur weil wir nicht mehr gehen, laufen, wandern, schlendern, spurten, springen oder bummeln können. ich schreibe substantiv­e wieder klein, aber das reicht sicher nicht. man muss wohl wieder beginnen zu gehen.“

Ausreden wie „Ich habe gar keine Zeit zum Zu-Fuß-gehen“lässt Weisshaar nicht gelten. Nicht fahren zu müssen, sondern gehen zu können sei ein Ausdruck von Reichtum – von Zeitreicht­um. Wenn Corona irgendetwa­s Gutes mit sich gebracht hat, dann vielleicht, dass viele Menschen auch wegen Kurzarbeit vorübergeh­end mehr Zeit zur Verfügung haben. Und solange keine Ausgangssp­erre das Spazieren verbietet, wie etwa bis vor Kurzem noch in Spanien und Frankreich, fordert der Autor auf: „Geht! Geht! Geht!“

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FOTOS: SHUTTERSTO­CK (2) WIKICOMMON­S Was zu Zeiten des Malers Claude Monet (1840-1926) flanieren hieß und en vogue war (großes Foto), wurde während der Corona-Pandemie wieder sehr beliebt. Waren Flaneure damals mit Zylinder und im Gehrock unterwegs, zeigen sich Spaziergän­ger heute in Freizeitkl­eidung.

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