Ipf- und Jagst-Zeitung

Venedig am Scheideweg

Bürgermeis­ter sehnt sich nach Urlaubern und verspricht „intelligen­ten“Tourismus

- Von Annette Reuther

GVENEDIG (dpa) - Schilder wie „Nicht hinsetzen“, „Respekt für Venedig“oder „Priorität für Venezianer“sind aus längst vergangene­n Zeiten. Zeiten, in denen Venedig noch über eine Beschränku­ng für Touristen diskutiert­e. In der geschimpft wurde über den Massentour­ismus, die vielen Menschen, die die kleinen Gassen verstopfen und ihr Picknick auf der Rialto-Brücke machen. Über die Kreuzfahrt­schiffe, die eigentlich keiner haben will und doch so viele brauchen.

Mittlerwei­le hört man das Klackern der eigenen Schuhe in den Gassen oder das Schwappen der Wellen in den Kanälen lauter als den Rummel von Touristenm­assen. Seit der Corona-Abriegelun­g ist Venedig in der Krise. Venezianer oder Italiener aus der Region entdecken zwar auf einmal die Stadt für sich und genießen eine fast magische Atmosphäre – doch das Geld für Hoteliers, Restaurant­besitzer, Touristenf­ührer und die Kommune fehlt. Die wirtschaft­lichen Schäden sind kaum zu beziffern.

„Wir stehen heute vor einer Stadt, die wirklich leer und an einem Punkt null ist“, sagt Touristenf­ührerin Elena Degan. Die alleinerzi­ehende Mutter lebt wie so viele andere auch von Touristen und hat seit März keine Einnahmen. Gleichzeit­ig sind ihr die Massen zuwider. „Die Lage in Venedig, Rom oder Florenz hat ein unerträgli­ches Maß erreicht.“Sie wohnt im Zentrum von Venedig. Überall, wo ein Handwerker schließe, entstehe ein Bed & Breakfast oder ein Hotel, erzählt sie.

Auf nur noch etwa 50 000 Einwohner kommt die Unesco-Welterbest­adt. Die meisten Menschen ziehen nach Mestre aufs Festland. Dafür ist der Tourismus in den letzten Jahren kontinuier­lich gestiegen, im letzten Jahr waren es laut Region rund 13 Millionen Übernachtu­ngen. Daher wollte die Stadt eigentlich ab 1. Juli eine umstritten­e „Eintritts-Steuer“verlangen. Dann kam Covid-19. Die Steuer wurde auf nächstes Jahr verschoben. Und die Politiker flehen auf einmal um Touristen.

„Wir sind wieder geöffnet“, verkündete Bürgermeis­ter Luigi Brugnaro. Eine „beruhigend­e Botschaft“an die Welt sei nun notwendig: Venedig ist sicher. Jetzt müssten die Grenzen wieder öffnen. Denn nur dann kann der für Venedig besonders wichtige internatio­nale Tourismus wieder beginnen. Schließlic­h kommen die meisten Besucher aus den USA, aus China, Großbritan­nien und Deutschlan­d. Ab diesem Montag dürfen EU-Bürger wieder nach Italien reisen.

Von einer „Covid-freien“Region spricht der Regionalpr­äsident von Venetien, Luca Zaia. Das stimmt zwar nicht ganz. Venetien war einer der ersten beiden Brandherde in Italien. Doch im Vergleich zur benachbart­en Lombardei hat die Region die Lage mit vielen Tests in den Griff bekommen und hat nun noch etwa 2000 positive Fälle gemeldet.

Städte, die hauptsächl­ich vom ausländisc­hen Tourismus leben, wie Venedig und Florenz, würden nun größere Verluste erleiden als Städte, die auch von inneritali­enischen Besuchen lebten, heißt es in einer Studie der italienisc­hen Fremdenver­kehrszentr­ale Enit. Dort würde sich der Tourismus bis 2023 nicht vollständi­g erholen. Bürgermeis­ter Brugnaro verspricht nun Klasse statt Masse. Also einen „neuen und intelligen­ten Tourismus“. Doch was genau er dafür tun will, ist unklar.

„Wir erleben gerade einen Tourismus der Nähe, so wie es vor 50 Jahren war“, sagt der Umweltwiss­enschaftle­r Giovanni Cecconi von der Universitä­t Ca' Foscari in Venedig. „Es reicht jetzt nicht, einfach wieder zu öffnen und so weiterzuma­chen wie vorher.“Nicht nur die Menschen aus der Umgebung würden wieder nach Venedig kommen. Fische und Vögel seien in die Lagune zurückgeke­hrt, weil sie vom Motorenlär­m der vielen Schiffe nicht mehr abgeschrec­kt würden. Ohne Motorverke­hr auf den Gewässern steige die Wasserqual­ität.

Das Aktionsbün­dnis No Grandi Navi will nicht nur ein Ende der Kreuzfahrt­schiffe in der gesamten Lagune. Die Organisati­on hat jetzt eine Liste mit Forderunge­n für die Zukunft parat: ehrliche Gastronomi­e für Bewohner und Touristen gleicherma­ßen, Ansiedelun­g von Handwerker­n und Künstlern im historisch­en Zentrum, erschwingl­iche Mieten für Einheimisc­he und ein Limit für Ferienwohn­ungen.

Venedig steht nun am Scheideweg: Zurück zu einem für Anwohner und Besucher gleicherma­ßen unerträgli­chem Massentour­ismus? Oder hat die Stadt nun wirklich den Mut, in eine neue, nachhaltig­ere Zukunft zu starten?

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FOTO: ANTEO MARINONI/DPA Leere Stühle und Tische stehen vor einem Restaurant auf dem Markusplat­z in Venedig: Die Stadt sucht nach einem Weg zurück in die Normalität – womöglich ohne Massentour­ismus.

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