Ipf- und Jagst-Zeitung

Russlands erstaunlic­he Corona-Zahlen

Viele Infektione­n, wenig Tote – Die Zählmethod­e macht den Unterschie­d

- Von Varvara Podrugina

GMOSKAU - Michail Tzchuiko leitet seit Mitte April die Intensivst­ation eines Moskauer Krankenhau­ses, die nur Corona-Patienten aufnimmt. Der Arzt schreibt in seinem Tagebuch: „Diese Seuche besiegen wir auf jeden Fall. Aber was nach diesem Sieg kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Es wird wahrschein­lich mehrere Monate dauern, bis wir zu Ruhe kommen. Genau wie zuvor werden wir nie mehr sein.“Seine Worte sind Teil einer Aktion, bei der bekannte Künstler Briefe und Einträge russischer Ärzte und Pfleger vorlesen, die seit Wochen gegen die Corona-Pandemie kämpfen.

Anfang Juni wurden in Russland mehr als 430 000 Covid-19-Infektions­fälle gemeldet. Es ist die höchste Zahl in Europa, weltweit haben nur die USA und Brasilien noch mehr Fälle. Fast die Hälfte der Erkrankten sind Moskauer. Nach Angaben des Moskauer Bürgermeis­ters Sergei Sobyanin sei die echte Zahl noch höher als die registrier­te, weil viele Erkrankte symptomfre­i bleiben oder sich nicht an Ärzte wenden. Doch bei der Todesrate liegt Russland hinter vielen europäisch­en Ländern wie Großbritan­nien, Italien, Frankreich und sogar Deutschlan­d. Der offizielle­n Statistik zufolge sind 5208 Menschen in Russland an Corona gestorben – etwas mehr als halb so viele wie in Deutschlan­d.

Westliche Medien vermuten deshalb, die russische Regierung verberge die echten Zahlen. Die „Financial Times“und die „New York Times“etwa schrieben im Mai, die wirkliche Totenzahl könne um 70 Prozent höher liegen. Das russische Gesundheit­sministeri­um wies die Vorwürfe zurück. Laut Vizepremie­rministeri­n Tatiana Golikowa sei die Rate der Todesfälle in Russland mehr als siebenmal niedriger als der weltweite Durchschni­tt. Das erkläre sich durch frühe Diagnosen und Krankenhau­saufenthal­te von Infizierte­n. Manipulier­t habe die Regierung nicht.

Das könnte stimmen: Die offizielle Statistik wird in Russland nicht verdreht, sondern die Daten anders gesammelt. Es ist komplizier­t, die Todesraten in verschiede­nen Ländern zu vergleiche­n, weil die Behörden sie auf unterschie­dliche Weise errechnen. In Belgien zum Beispiel schließt die Regierung in der Totenzahls­tatistik sogar diejenigen mit ein, bei denen nur ein Verdacht besteht, der Tod könnte mit dem Virus zu tun haben. In den meisten europäisch­en

Ländern, Deutschlan­d, gelten als Corona-Opfer nur diejenigen, die positiv auf das Virus getestet wurden. In Russland wird anders gezählt: „Unsere Patienten leiden meistens an verschiede­nen Krankheite­n,

einschließ­lich die sich durch Covid-19 verschärfe­n. Wenn ein Mensch mit dem Virus stirbt, ist die direkte Todesursac­he oft nicht eine Lungenentz­ündung, sondern ein Herzstills­tand, ein Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll. Genau diese direkte Ursache melden wir an”, erklärt Rimma Kamalowa, Ärztin eines großen regionalen Krankenhau­ses, im Radio Business FM. Nur in etwa 35 Prozent der Infektions­fälle sei Covid-19 die direkte Todesursac­he,

sagt Sergei Timonin, Dozent für Demografie der russischen Higher School of Economics, dem Russischen Dienst der BBC. Deshalb empfiehlt die Weltgesund­heitsorgan­isation, in die offizielle Statistik alle Toten einzuschli­eßen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden. Erst am 28. Mai beschloss die russische Regierung, den WHO-Empfehlung­en zu folgen. Bisher wenden sie aber nur die Moskauer Behörden an. Sie haben die Statistik für April entspreche­nd korrigiert: Damit ist die Todesrate in der russischen Hauptstadt von 639 auf 1561 Menschen gestiegen, oder von 1,4 auf 2,8 Prozent aller Infektions­fälle. Doch die Zahl ist immer noch niedriger als in anderen großen

Städten: zehn Prozent beträgt sie in New York, 23 Prozent in London. Wenn alle Regionen die neue Zählmethod­e anwenden, wird die Todesrate weiter steigen.

Trotzdem ist die Statistik nicht der einzige Grund für die niedrige Covid-19-Todesrate in Russland. Eine wichtige Rolle spielt die Zeit. Die russischen Behörden waren auf die Pandemie besser vorbereite­t als viele europäisch­e Regierunge­n, weil sie später in Russland ankam als in Europa. Doch das russische Gesundheit­sministeri­um warnt bereits: Weil der Höhepunkt der Pandemie in Russland Ende April gewesen sei, werde die Totenzahl im Mai deutlich ansteigen.

„Unsere Patienten leiden meistens an verschiede­nen Krankheite­n, die sich durch Covid-19 verschärfe­n.“

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FOTO: DMITRI LOVETSKY/DPA Totengräbe­r in Schutzklei­dung lassen auf einem russischen Friedhof den Sarg eines Covid-19-Opfers in ein Grab, während Angehörige und Freunde in sicherer Entfernung stehen und zusehen. Verglichen mit anderen Ländern ist die Todesrate in Russland aber relativ gering.

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