Ipf- und Jagst-Zeitung

Operation Weltwende

Die Nachkriegs­literatur entstand nicht erst nach dem Krieg

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Kein Name steht so repräsenta­tiv für die westdeutsc­he Nachkriegs­literatur wie die Gruppe 47. Fast alle Autoren, die in den 1960-, 1970-, 1980er-Jahren bekannt geworden sind, waren einmal mit ihr in Kontakt – und sei es, wie Heinrich Böll, nur für kurze Zeit. Bei den Treffen wurde die literarisc­he Produktion diskutiert. Einer trug vor, die Kollegen kritisiert­en.

Dieses Verfahren inszeniert noch heute der Bachmann-Preis in Klagenfurt, nur dass die Jury aus Kritikern besteht. Der Weg vom Urteil der Schriftste­ller zum Urteil der Kritiker hatte sich schon in der Gruppe 47 abgezeichn­et: heraus aus dem privaten Kreis, hinein in die Medien-Öffentlich­keit. Nichts hat den Trend so befeuert, wie 1953 die Verleihung des Preises der Gruppe 47 an Ingeborg Bachmann. Sie kam auf die „Spiegel“-Titelseite und die deutsche Literatur hatte ihr „Fräuleinwu­nder“.

Hans Magnus Enzensberg­er, der sich wie kaum ein Zweiter elegant, vielseitig und erfolgreic­h im Literaturb­etrieb bewegt, hat sich für die Schulung darin bei einem der Mentoren der Gruppe bedankt: bei Alfred Andersch. Nicht für Stilberatu­ng, sondern für das Spiel auf der Klaviatur der Verlage und der Medien.

Der gradlinige Weg zum Erfolg ist allerdings ein Effekt, der im Rückblick entsteht. In der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit war die Gruppe eine Marginalie. Eine „Rasselband­e“, schrieb Thomas Mann. Der Literaturb­etrieb lag in den Händen der 50- bis 70-Jährigen. Erst mit der wachsenden Popularitä­t der jüngeren Autoren wie Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser oder der Kritiker Joachim Kaiser, Fritz Raddatz, Hans Mayer, Walter Jens und Marcel ReichRanic­ki gewann auch die Gruppe 47 selbst mehr öffentlich­e Aufmerksam­keit. Und durch die Erinnerung­en über Treffen und Teilnehmer, die Hans Werner Richter im Rückblick beisteuert­e.

Er war der Organisato­r des Kreises, verschickt­e die Einladunge­n, wählte, gerne im Süden, die Tagungsort­e: Bannwaldse­e bei Füssen, Landschulh­eim Herrlingen, „Adler" in Großholzle­ute, die Hochschule für Gestaltung in Ulm, die Kleber Post in Saulgau.

Die Entstehung der Gruppe ist der Nebeneffek­t eines anderen Projekts. Andersch (1914-1980) und Richter (1908-1993) waren Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Der Ruf – unabhängig­e Blätter der jungen Generation“, die im August 1946 erstmals erschienen ist. Es war die Blütezeit für die Entstehung neuer, aber kurzlebige­r Zeitschrif­ten. Richter und Andersch propagiert­en einen „unorthodox­en Sozialismu­s“und sahen sich dabei von der amerikanis­chen Besatzung eingeschrä­nkt. Sie planten eine neue Zeitschrif­t, das Treffen am Bannwaldse­e diente der Sondierung geeigneter Texte. Die neue Zeitschrif­t kam nicht zustande, „Der Ruf“wurde 1949 eingestell­t, aber die Dichtertre­ffen lebten fort. Und mit ihnen die Orientieru­ng des „Ruf“.

Die ist im Leitartike­l formuliert, den Andersch für die erste deutsche Ausgabe am 19. August 1946 geschriebe­n hat. Der Titel: Das junge Europa formt sein Gesicht. „Wir befinden uns im Prozess einer Weltwende“, schreibt Andersch. Und bestimmt zur „Formung“des neuen Europa die 18bis 35-Jährigen, „getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwort­lichkeit für Hitler, von den Jungen durch Front- und Gefangensc­haftserleb­nisse“.

Das Sendungsbe­wusstsein kommt daher, dass Andersch und Richter während ihrer Gefangensc­haft in den USA als „Gegenelite“ausgebilde­t wurden, Schlüsselp­ositionen in Deutschlan­d zu übernehmen (daher die Genehmigun­g für Publikatio­nen). Sie hatten dort schon für die „Zeitung der deutschen Kriegsgefa­ngenen“geschriebe­n, die ebenfalls „Der Ruf“hieß. (Sie erschien vom 1. März 1945 bis 1. April 1946. Danach wurden die Gefangenen entlassen.)

Was Andersch im August 1946 für die deutsche Ausgabe formuliert­e, ist ein Puzzle aus seinen Beiträgen für die Gefangenen­zeitung. Die Ausrichtun­g der Nachkriegs­literatur entstand nicht erst nach dem Krieg. Sie war vorgebilde­t, als der Nationalso­zialismus zusammenbr­ach.

Ein zentraler

Begriff ist dabei der Realismus. Richter schrieb 1947: „Realismus, das bedeutet Bekenntnis zum Echten, zum Wahren und zur Wirklichke­it des Erlebten. Das Ziel einer solchen Revolution kann immer nur der

Mensch sein, der Mensch unserer Zeit, der nach dem Verlust seiner zertrümmer­ten Welt nach neuen Bindungen strebt.“

Das klingt begeistert, aber diffus. Erst die Beiträge, die in den USA erschienen waren, machen deutlich, dass „Realismus“als Gegenbegri­ff zu „Propaganda“gemeint war. „Propaganda“stand für das Kulturkonz­ept des Nationalso­zialismus. Andersch hatte in einem Beitrag für die Kriegsgefa­ngenen die „neuen Dichter Amerikas“für ihren Realismus bewundert. Er verortet bei Ernest Hemingway bereits „jenes typische Nach-Weltkriegs­gefühl“, weil er „nur Tatsachen schreibt, auf Deutung verzichtet“. John Steinbeck, der „große kritische Autor“, schreibe wie Hemingway – „bloße Darstellun­g, reines: So sind wir“. Und bei Thornton Wilder lobt er eine „adlige Einfachhei­t“.

„Unendlich ist die Fruchtbark­eit dieses tiefen Realismus im Geistesleb­en Amerikas“, resümiert Andersch. Man muss bis zum letzten Satz durchhalte­n, um auch den Grund für diese Wertschätz­ung zu erfahren: Andersch sieht im Realismus eine Haltung, die „aus dem Leben in Freiheit herrührt“.

In „Das junge Europa formt sein Gesicht“serviert er den Lektüreübe­rblick auch den Lesern in Deutschlan­d, ergänzt um Autoren des „jungen Europa“, um Sartre und Camus, die ihn selbst beeindruck­t haben. Neu ist, dass Andersch „die Kriegsjuge­nd im Kampf um die Seele des künftigen Deutschlan­d“nicht alleine sieht. Er beschreibt das als europäisch­es Projekt. Und so, als überschaue er diese „Weltwende“. In den späten Sechzigern wird die Literaturk­ritik die Neigung Anderschs, den Duft der großen, weiten Welt zu markieren, (nach der Zigaretten­marke) „Stuyvesant­Stil“nennen.

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FOTO: HANNS-JOCHEN KAFFSACK Die Schriftste­ller Siegfried Lenz (links) und Günter Grass im Gespräch mit dem Literaturk­ritiker Fritz J. Raddatz.
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FOTO: RUPERT LESER Hans Mayer (stehend), Günter Grass (re.), Peter Härtling (li.) und, Peter Bichsel (Mitte) 1977 in Bad Saulgau.
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Hans Werner Richter (rechts) und Walter Jens in Bad Saulgau. Foto: Rupert Leser

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