Die ethnische „Säuberung“Europas
Die Migrationsdebatte verändert den Blick auf Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg
Der Zweite ist aus globaler Sicht mit ethnischen „Säuberungen“von gewaltigem Ausmaß zu Ende gegangen. In Asien wurde das koloniale britische Empire zwischen den Nachfolgestaaten Indien und Pakistan aufgeteilt. Dieser Vorgang sollte religiös-einheitliche Staaten bilden und hatte in den Jahren 1947/48 Flucht und „Austausch“von 20 Millionen Hindus und Muslimen zur Folge – hin und her zwischen diesen beiden Nachfolgestaaten.
In Europa ist die Vertreibung der Deutschen mit 15 Millionen Opfern die mit Abstand „größte ethnische Säuberung“, schreibt der Historiker Michael Schwartz. Und weltweit nur mit den gleichzeitigen Vorgängen in Indien vergleichbar. Der konzentrierte und zugleich perspektivenreiche Beitrag ist im Tagungsband „Über Grenzen – Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945“erschienen und liest sich als Musterbeispiel dafür, nationalgeschichtliche Ereignisse in umfassende historische Zusammenhänge zu stellen.
Das Thema Vertreibung ist vielfach mit Vorbehalten belastet. Wie schon 2012 der Historiker Ray M. Douglas schrieb, gibt es auch unter Wissenschaftlern einen „Widerwillen“, diesem Gegenstand den gebührenden Stellenwert einzuräumen. Die Vertreibung der Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt in mehreren Nationalgeschichten eine Rolle. Für Polen, Tschechen und Slowaken untergrabe sie, schreibt Douglas, „nationale Erzählungen, in denen Deutsche ausschließlich als Täter und die eigenen Völker ausschließlich als Opfer erscheinen“. Aber NSVerbrechen dürften nicht dazu instrumentalisiert werden zu verhindern, auch andere „massenhafte Menschenrechtsverletzungen“wie die Vertreibungen deutlich zu benennen.
Die Deutschen spielen im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs eine Doppelrolle: als Tätergruppe des Genozids und als Opfergruppe der Zwangsemigration. Die Vereinten Nationen haben 1948 den Genozid als zielgerichtete Ausrottung einer Bevölkerungsgruppe definiert. 1992 hat die UN ethnische „Säuberungen“vom vorsätzlichen Massenmord abgegrenzt. Ethnische „Säuberungen“sind demnach eine „vorsätzliche Politik, die von einer ethnischen oder religiösen Gruppe verfolgt wird, um die Zivilbevölkerung einer anderen solchen Gruppe durch gewaltsame und terroristische Mittel aus bestimmten geographischen Gebieten zu entfernen“.
Für Schwartz ist der Fall von „Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“so bemerkenswert, weil er exemplarisch ist. Er sieht hier „sämtliche Formen von Säuberungen idealtypisch“zusammenkommen: angeordnete Evakuierung, Flucht vor einer Feindarmee, verdeckte, aber zentral organisierte Vertreibung, zwischenstaatlich organisierte Zwangsdeportation und scheinbar freiwillige Umsiedlung, punktuelle Massaker, Internierungen in Lagern.
Von all dem waren 15 Millionen Deutsche im Zeitraum von 1944 bis 1950 betroffen, wie Schwartz ausführt. Zwölf Millionen haben überlebt, acht in der Bundesrepublik, vier Millionen in der DDR, 430 000 in Österreich, 120 000 waren nach Übersee ausgewandert. In der Bundesrepublik wurden die Vertriebenen zunächst in ländlichen Gegenden untergebracht, was häufig zu Konflikten führte. Um 1950 setzte dann eine Abwanderung in die Städte ein, die Integration beförderte. Gegen 1960 konstatierten Soziologen die „Auflösung der Fronten“. Schwartz’ Beitrag ist gleichsam der
Mittelpunkt des Sammelbandes, der Vorträge einer internationalen Tagung abdruckt, die das Institut für Zeitgeschichte 2016 in Berlin ausgerichtet hatte.
Michael Schwartz ist selbst Mitarbeiter an diesem Institut. Die Wechselwirkungen von Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert sind sein Forschungsgebiet. Das „Instrumentarium ethnischer Säuberungen“war, wie er schreibt, der „Generation Churchills, Hitlers und Stalins“durch die Balkankriege 1912/13 vertraut. Ferner durch den griechisch-türkischen „Bevölkerungsaustausch“, der 1923 sogar auf Anregung des Völkerbundes in Lausanne verhandelt worden war.
Schwartz kann in seinem Beitrag, in dem er sich auf 1945 konzentriert, nur andeuten, dass derlei Versuche, Staaten aus homogenen Bevölkerungen zu bilden, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als „probates Mittel einer europäischen Stabilitätspolitik“verstanden wurden. Lenin hatte das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“
mehrfach grundsätzlich proklamiert, der amerikanische Präsident Woodrow Wilson griff 1917 Lenins Formel mit strategischem Kalkül auf. Diese Parole, die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend gegen Osmanen- und Habsburger Reich gerichtet wurde („Völkergefängnisse“), diente den Alliierten am Ende des Ersten Weltkriegs dazu, die multikulturellen Territorien der politischen Gegner aufzuspalten. Die neuen Staaten, die nach 1918 als Nachfolger dieser beiden großen kontinentalen Imperien entstanden, proklamierten sich als Nationalstaaten, die aber nun wieder andere nationale „Minderheiten“mitumfassten. Hitler bezog sich, wie Schwartz ausführt, gezielt auf die Vertreibungspraxis dieser Jahre. Er lobte als „Vorbild“für die Zukunft die französische Besatzungspolitik in ElsassLothringen, bei der damals 140 000 Deutsche ausgewiesen wurden. 1940 ließ Hitler, nach der Besetzung Frankreichs, dort seinerseits die Franzosen ausweisen.
Solchen Ketten von Vertreibungen, Evakuierungen, Fluchtbewegungen und Zwangsumsiedlungen während des Zweiten Weltkriegs und in seinem Gefolge haben, resümiert Schwartz, nicht nur Deutschland, sondern auch andere Nachkriegsgesellschaften Europas verändert. Vor allem in Ostmitteleuropa kam es erst nach 1945 „halbwegs zur Übereinstimmung von Staatsgebieten und Staatsvölkern“.
Genozid und Vertreibung haben Europa auch soziologisch verändert: „Der deutsche Völkermord an sechs Millionen Juden und die alliierte Vertreibung von zwölf bis 15 Millionen Deutschen, haben das alte Bürgertum in Mittel- und Osteuropa beseitigt.“