Wenn Corona wieder zur Flasche greifen lässt
Viele trockene Alkoholiker wurden rückfällig – Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe muss vorerst bei Treffen improvisieren
GAALEN - Existenzängste, soziale Isolation, Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung. Corona bringt die Menschen an ihre Grenzen. Die Gefahr, zur Flasche zu greifen, ist groß, sagt Jürgen Koch, stellvertretender Leiter des Freundeskreises für Suchtkrankenhilfe Aalen. Mehrere Rückfälle habe es auch in der Gruppe gegeben. „Einige Mitglieder mussten sogar auf medizinische Hilfe zurückgreifen, damit sie nicht noch weiter abrutschen.“Bei den Gruppenabenden hätten sie aufgefangen werden können. Doch diese sind in CoronaZeiten weggefallen.
Ganz langsam kehrt angesichts der Lockerungen durch die Landesregierung wieder eine gewisse Normalität ein. Auch die Teilnehmer des Freundeskreises für Suchtkrankenhilfe haben sich wieder getroffen. Allerdings nicht wie geplant im Haus Kastanie, wo vor Corona jeden Freitag die Treffen stattgefunden haben. Nach einer anfänglichen Freigabe durch die Kirchenpflege habe das evangelische Dekanat eine dortige Zusammenkunft untersagt. „Dabei hatten wir für unseren Neustart alles in die Wege geleitet,“sagt Koch und denkt an die Trennung der Gruppe in Kleingruppen mit maximal fünf Teilnehmern und das Einhalten der Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen. Darüber hinaus seien bereits Listen erstellt worden, in die sich jeder mit Adresse und Telefonnummer hätte eintragen können, um bei einer möglichen Infektion alle Teilnehmer aus der Gruppe zu erreichen.
Bevor sich diese wieder im Haus Kastanie treffen dürfen, „müssen wir laut Diakonie erst die Entscheidung des Kirchengemeinderats abwarten, der in seiner Sitzung am 17. Juni beschließen soll, wann das Gebäude für kleinere Treffen und Veranstaltungen wieder geöffnet wird“, sagt Koch. „Bis dahin müssen wir improvisieren.“Insofern fand das erste Treffen im Außenbereich einer Eisdiele statt. Weitere Gruppenabende könnten im Freien, bei Koch oder einem Teilnehmer der Gruppe zu Hause organisiert werden.
Wichtig sei nur, dass die Treffen wieder regelmäßig für die Menschen stattfinden, die angesichts ihrer Suchtproblematik, dringend Hilfe benötigen und sich wieder langsam in ein geregeltes Leben zurücktasten möchten. Ein Austausch per Telefon, via Skype oder E-Mail wie in den vergangenen Monaten könne den direkten Kontakt nicht ersetzen.
Suchtberatung und Hilfestellung in persönlichen Gesprächen habe eine ganz andere Qualität. Vor allem für Alkoholiker, die erst seit ein oder zwei Jahren trocken sind oder gerade eine Therapie abgeschlossen haben, sei eine Gruppe enorm wichtig, sagt Koch.
Das sei vor allem in Corona-Zeiten deutlich geworden. Angesichts der Kontaktsperre seien sie weitestgehend auf sich allein gestellt gewesen.
Um nicht zur Flasche zu greifen, hätten sich einige mit Beschäftigungen wie dem Aufräumen des Dachbodens oder des Kellers abgelenkt. „Wenn es ihnen schlecht gegangen ist, haben sie mich angerufen und sich ihre Probleme von der Seele geredet“, sagt Koch. Doch nicht alle haben es geschafft, abstinent zu bleiben. Aufgrund der wirtschaftlich unsicheren Situation in Zeiten von Corona und zwischenmenschlicher Konflikte im privaten Kreis seien manche wieder in den Teufelskreis der Sucht zurückgekehrt.
„Ich habe Angst vor dem Corona-Virus, Angst vor Arbeitslosigkeit und ich fühle mich in meiner Familie missverstanden. Obwohl ich etliche Jahre abstinent gelebt habe, hat mich diese Situation wieder dahin gebracht, wo ich vorher war, nämlich wieder in die Sucht und an die Flasche. Leider konnte ich während der Kontaktsperre keine wirkliche Hilfe durch die Gruppe erfahren“, zitiert Koch einen Gruppenteilnehmer, den er mehrfach am Telefon betreut hat.
Einen anderen Suchtkranken, der am Boden war, und wieder rückfällig geworden ist, hat Koch, ausgestattet mit Mundschutz, sogar zu Hause besucht. Anschließend sei der Mann in die Tagesklinik für Allgemeinpsychiatrie
Schwäbisch
Gmünd, einer Außenstelle des Zentrums für Psychiatrie Winnenden, stationär aufgenommen worden. Ein weiteres Mitglied der Gruppe habe sich nach einem Rückfall freiwillig in Therapie begeben. „Er wusste, dass er Mist gebaut hat und hat eingesehen, dass es – Corona hin oder her – so nicht weitergehen kann.“
Den Wunsch, trocken zu bleiben, haben viele. Doch der Droge Alkohol auf Dauer abzuschwören, sei ein harter Weg, sagt Koch. Und er weiß, wovon er spricht. Er selbst war über Jahrzehnte Alkoholiker, seit 20 Jahren hat er keinen Tropfen mehr angerührt. Die Corona-Krise sei aber auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Vor allem seine Einsätze an Schulen, an denen er junge Menschen über die Gefahren des Alkohols aufklärt, würden ihm ebenso fehlen wie Termine mit der Diakonie, sagt der in Dewangen lebende 73-Jährige, der für die Öffentlichkeitsarbeit des Freundeskreises für Suchtkrankenhilfe zuständig ist, seine Funktion als Gruppenleiter hat er vor geraumer Zeit an Heiko Kretschmar übergeben. Die Gefahr, dass Koch selbst wieder dem Alkohol verfällt, habe in den vergangen Monaten allerdings nie bestanden. „Das schafft auch Corona nicht.“
Die Mitglieder des Freundeskreises für Suchthilfe Aalen und die Menschen, die zu den Treffen kommen, waren bereits vor Ausbruch der Pandemie suchtkrank. Dass diese allerdings neue Süchtige hervorgebracht hat, glaubt Koch ganz sicher. Der Alkohol lasse viele für kurze Zeit die Sorge vergessen, wie es in Zeiten von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit existenziell weitergeht.
Auch für Eltern, die neben Homeoffice und Homeschooling überfordert sind, sei der Konsum von Bier, Wein oder Sekt ein Mittel, um von dem Stress herunterzukommen. „Die Grenze zwischen regelmäßigem Alkoholkonsum und Sucht ist fließend. Wenn der Alkohol wie in den genannten Fällen allerdings für einen bestimmten Zweck missbraucht wird, ist der Weg zur Sucht nicht mehr weit.“
„Wenn der Alkohol für einen bestimmten Zweck missbraucht wird, ist der Weg zur Sucht nicht mehr weit“,