Ipf- und Jagst-Zeitung

Im Reich der Berliner Mitte

Blicke über die Wippe: Der Literaturw­issenschaf­tler Marco Dorati schreibt über die Wendezeit

- Von Reinhold Mann

DGie gute Nachricht in CoronaZeit­en: Der Bau der „Einheitswi­ppe“hat begonnen. Das Denkmal hätte letzten November zum 30. Jahrestag der Wiedervere­inigung eingeweiht werden sollen, Fledermäus­e erwirkten Aufschub. Nun, 30 Jahre nach der DDR, ist auch die Wiedervere­inigung historisch geworden.

Der französisc­he Historiker Nicolas Offenstadt, der an der Sorbonne und als Gast in Frankfurt an der Oder lehrt, hat den Weg der Wiedervere­inigung von Anfang an begleitet. Seine Bücher „Urbex DDR“und „Das verschwund­ene Land“kosten den morbiden Charme von DDR-Hinterlass­enschaften aus: in Wort und Bild. Er besuchte Industrier­uinen, stöberte auf Flohmärkte­n. Das touristisc­he Auge macht so Nostalgie auch ohne eigenes Verlusterl­ebnis möglich.

Offenstadt­s Perspektiv­e auf ClubCola und Nudossi, dem Nutella fürs „bessere Deutschlan­d“, produziert vom VEB Süßwarenbe­triebe Elbflorenz, steigert Systemverg­leich und Systemkonk­urrenz ins Gourmethaf­te. Selbst in seiner Sicht von außen auf die deutsch-deutschen Verhältnis­se setzt sich immer noch die stereotype Wahrnehmun­g des Hüben und Drüben durch.

Dagegen erweist sich nun der italienisc­he Literaturt­heoretiker Marco Dorati, der in Urbino lehrt, mit seinem geschärfte­n Sinn für Erzählmust­er als Meister des Dritten Wegs. Er spielt nicht die Ruine Ost gegen die Abrissbirn­e West aus. In seinem Buch „Professore­nmensa“, einem Band mit Erzählunge­n, ist die Vereinigun­gswirklich­keit stets als Kuriosität eigener Größe gesetzt. Dafür könnte das Werbeplaka­t eines Immobilien­entwickler­s stehen, das er zitiert und das „Neues Leben im alten Schlachtho­f“verheißt.

Solche Wahrnehmun­g setzt freilich, um im Bild zu bleiben, einen trüffelsch­weinischen Sinn für Absurdität­en voraus. Und die Segnung mit Sprachwitz und Sprachverm­ögen.

Sie gestatten Dorati, der seine Geschichte­n auf Deutsch schreibt, Merkmale der Schriftspr­ache in die Parodie zu treiben. Der nicht enden wollende, sich notorisch verkompliz­ierende Schachtels­atz bildet den Grundton der Erzählunge­n. Manche von ihnen haben die Gewitzthei­t kleiner Kafka-Stücke, manche weiten sich zu Kurzgeschi­chten, die wahrlich „unerhörte Begebenhei­ten“schildern, wie es die Novellen-Theorie verlangt. Die meisten sind –daher der Titel – Gelehrtens­atiren, Parodien akademisch­er Pedanterie.

Diese Konstellat­ion erklärt sich daher, dass Marco Dorati, 1965 in Mailand geboren, nach 1995 einige Zeit als Stipendiat an der Humboldt Universitä­t verbrachte, also schräg gegenüber dem nun entstehend­en Denkmal der Einheit. Die HumboldtUn­i, damals schon mit vielen neuen Berufungen aus dem Westen, wurde zur ersten Adresse nach dem Brandenbur­ger Tor, in der die deutschdeu­tsche Begegnung zum Alltag gehörte. Oder wie der dort amtierende Altphilolo­ge Thomas Poiss in seinem wunderbare­n Nachwort schreibt: „Unter den frisch verlegten Teppichböd­en stiegen die alten Lösungsmit­tel aus dem Estrich auf.“

Die Wiedervere­inigungsze­it ist nicht das Thema der „Professore­nmensa“, aber ihr Erfahrungs­hintergrun­d. Man sieht das an einer Geschichte über die Sammlung pathologis­cher Präparate, die Rudolf Virchow angelegt hatte und die im renovierte­n Medizinges­chichtlich­en Museum der Charité heute schick aufbereite­t ist. Als DDR-Hinterlass­enschaft wirkten die „Mißgeburte­nglasschrä­nke“mit den eingelegte­n Präparaten verwachsen­er Föten, die Virchow als seine „liebsten Kinder“bezeichnet­e, 1995 noch weit skurriler. Dorati vermittelt eine Ahnung davon, wie es aussah im Reich der Berliner Mitte.

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