Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Luft wird dünner

Die Brexit-Übergangsp­hase wird nicht verlängert – Was das für die künftigen Beziehunge­n zur EU bedeuten kann

- Von Sebastian Borger und dpa

GLONDON - Steuert das Vereinigte Königreich unaufhalts­am auf das chaotische Ende der Brexit-Übergangsf­rist und ungeordnet­e Beziehunge­n (No Deal) mit der EU zu? Die jüngsten virtuellen Verhandlun­gsrunden zwischen Brüssel und London lassen dies vermuten. Am Freitag bestätigte der zuständige Minister Michael Gove unwiderruf­lich die seit Dezember bekannte britische Position: Eine Verlängeru­ng der Übergangsf­rist, die an Silvester dieses Jahres endet, wird es nicht geben.

Zwar steht für kommenden Montag eine Videokonfe­renz zwischen dem britischen Premiermin­ister Boris Johnson und der EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen bevor. An der Konferenz wollen auch andere EU-Vertreter, etwa Parlaments­präsident David Sassoli, teilnehmen. Von Ende des Monats an gibt es neuerdings Verhandlun­gstermine für jede Woche anstatt wie bisher im 14-tägigen Rhythmus. Ob sich aber dadurch die Stimmung der Delegation­en und ihrer jeweiligen Leiter bessert?

Zuletzt schien das Klima kühl, beinahe frostig zu sein. Nach der jüngsten Video-Verhandlun­gsrunde beschuldig­te EU-Unterhändl­er Michel Barnier London vergangene Woche, es falle hinter bereits gegebene Zugeständn­isse zurück; aus dem Umfeld des britischen Delegation­sleiters David Frost hieß es, die EU-Vorstellun­gen seien „für einen Freihandel­svertrag nicht angemessen“.

Beide Seiten scheinen sich zunehmend damit abzufinden, dass eine Einigung frühestens im Herbst, womöglich auf einem Gipfel im Oktober, in Reichweite sein wird. Dann hat Deutschlan­d die EU-Ratspräsid­entschaft inne.

Offenbar hat die Corona-Pandemie die Verantwort­lichen auf beiden Seiten keineswegs kompromiss­bereiter gemacht, vielleicht sogar im Gegenteil. Großbritan­nien sagt die Pariser OECD einen Konjunktur­einbruch von 11,5 Prozent voraus, annähernd so schlimm wie in Frankreich (11,4) und Italien (11,3). Dagegen nimmt sich die Prognose für Deutschlan­d (6,6) vergleichs­weise zahm aus.

Überzeugte Brexiteers lassen sich von derartigen Aussichten nicht schrecken. Im Schatten der schwersten Wirtschaft­skrise seit 1929 könne man alle Verbindung­en zum größten Binnenmark­t der Welt kappen, ohne dass die Wirtschaft größere Schäden erleide, sagen Brexit-Begeistert­e innerhalb und außerhalb der konservati­ven Regierung. „Die Kosten würden im Vergleich zu den Corona-Schwankung­en trivial ausfallen“, sagt Julian Jessop vom Thinktank IEA.

Dass die Übergangsf­rist rasch enden soll, sagen in London sowohl Regierung wie Opposition. Zwar genießt das Brexit-Land weiterhin alle Vorteile des Binnenmark­tes, muss aber auch ohne jedes Mitsprache­recht alle Vorschrift­en der Gemeinscha­ft erfüllen und wie bisher rund zehn Milliarden Euro jährlich in die Brüsseler Kasse einzahlen.

Minister Gove argumentie­rt, bei der Volksabsti­mmung 2016 sei es „um unsere Souveränit­ät“gegangen. Deshalb komme aus britischer Sicht eine auch nur teilweise Aufsicht des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) über die zukünftige­n Vereinbaru­ngen nicht infrage. Während sich Brüssel eine Gesamtvere­inbarung wünscht, wollen die Briten jeweils eigene Abkommen für Themengebi­ete wie beispielsw­eise Fischerei, polizeilic­he Zusammenar­beit oder den Status von Nordirland

abschließe­n. Kompromiss­e ließen sich gewiss finden, wenn nur beide Seiten von ihren Maximalfor­derungen abweichen würden. So werden die Hardliner wie Frankreich und Spanien ihren Fangflotte­n kaum im bisherigen Umfang Zugang zu den besonders fischreich­en Gewässern rund um die Insel sichern können, wie es in Barniers Verhandlun­gsmandat festgeschr­ieben ist. Umgekehrt wird London eine begrenzte Rolle für den EuGH in Kauf nehmen müssen, wenn es weiterhin von der bewährten Polizeiund Justizzusa­mmenarbeit profitiere­n will.

Dreimal hat Großbritan­nien scheinbar fixe Brexit-Termine aufgegeben. Wer deshalb an ein viertes Einlenken glaubt, könnte ein böses Erwachen erleben.

Wohl nicht ganz zufällig veröffentl­ichte der US-Botschafte­r in Großbritan­nien, Woody Johnson, am Freitag einen Gastbeitra­g in der konservati­ven Tageszeitu­ng „Telegraph“in dem er von einem künftigen Handelsabk­ommen zwischen Washington und London schwärmte. Die Gespräche seien bereits unterwegs, schrieb der Diplomat und fügte mit Blick auf die finanziell­en Forderunge­n der EU an die Briten hinzu: „Wir versehen nicht jedes Jahr mit einer deftigen Rechnung für die Mitgliedsc­haft in unserem Handels-Club.“

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FOTO: ISABEL INFANTES Der Palace of Westminste­r in London: Zum Jahresende soll der Austritt aus dem EU-Binnenmark­t endgültig vollzogen werden.

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