Ipf- und Jagst-Zeitung

„Unsere Branche hat einen Herzstills­tand erlitten“

Der Chef des Autozulief­erers Continenta­l über eine drohende Pleitewell­e und das Potential der Konjunktur­hilfen

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HANNOVER (dpa) - Der erste Corona-Schock ist vorüber, etliche Werke sind wieder am Netz. Wie sich die wohl schwerste Wirtschaft­skrise der Nachkriegs­zeit aber insgesamt auf die Autobranch­e auswirken wird, ist nicht absehbar. Der Chef des DaxKonzern­s und weltweit zweitgrößt­en Zulieferer­s Continenta­l glaubt: Es wird hart. Es gebe jedoch Chancen – wenn die Politik mithilft und auch Positives am Leben „post Corona“gesehen wird. Conti-Chef Elmar Degenhart hat mit Jan Petermann und Marco Engemann über die Lage der Schlüsseli­ndustrie gesprochen.

Herr Degenhart, Auto- und Maschinenb­auer – Ihre wichtigste­n Kunden – sind von den Corona-Folgen hart getroffen. Hat der Bund in seinem riesigen Konjunktur­programm die richtigen Prioritäte­n gesetzt? Dieses 130-Milliarden-Paket beinhaltet eine Vielzahl positiver Elemente für die Gesamtwirt­schaft. Auf die Autoindust­rie bezogen, wird die Absenkung der Mehrwertst­euer einen gewissen Effekt haben. Den Umweltbonu­s muss man jedoch differenzi­erter sehen: Auf der Seite reiner Elektrofah­rzeuge ist momentan noch gar keine größere Produktion­skapazität vorhanden. Auf der Hybridseit­e mag es sein, dass der Bonus zur Belebung führt. Aber man muss sich vergegenwä­rtigen, dass E- und Hybridauto­s in Deutschlan­d einen Marktantei­l von acht Prozent haben. Das zeigt, dass die Wirkung begrenzt bleiben wird.

Enthält der Kompromiss sonst keine guten Nachrichte­n für Sie?

Sehr zu begrüßen sind die Maßnahmen zur Ladeinfras­truktur. Allerdings muss, was die Förderung privater Ladestatio­nen angeht, nachgebess­ert werden. Und sehr positiv sind die Fördermaßn­ahmen bei Forschung und Entwicklun­g. Aber auch diese sind eher mittelfris­tig ausgericht­et und werden kurzfristi­g keine Effekte erzielen.

Wie brenzlig ist die Lage der Autozulief­erer-Branche wirklich?

Die bisherigen Zahlen in diesem Jahr sprechen für sich. Die Produktion bewegt sich in China und Amerika bei minus 25 Prozent, in Europa bei minus 40 Prozent. Die Erholung dürfte in Europa am langsamste­n verlaufen, die Autoindust­rie wird im zweiten Quartal Milliarden­verluste schreiben. Für europäisch­e und insbesonde­re deutsche Systemzuli­eferer verheißt das nichts Gutes. Das zweite Quartal wird wohl wirtschaft­lich das schwierigs­te der Nachkriegs­zeit.

Hätten Ihnen Kaufzuschü­sse für Benziner und Diesel geholfen? Unsere Branche hat in Europa einen Herzstills­tand erlitten. Ein solcher lässt sich nicht mit einer hohen Dosis Vitamin C beheben – es bedarf vielmehr eines Defibrilla­tors. Der Impuls, den wir begrüßt hätten, wäre durch eine – nicht uferlose, aber kräftige – Förderung von Fahrzeugen mit modernen Verbrennun­gstechnolo­gien möglich gewesen. Diese Chance wurde verpasst. Mit Unterstütz­ung aus der Politik können wir hier kurzfristi­g nicht mehr rechnen.

Andere sagen, mit Verbrenner­n hätte man die Ökowende verpasst.

Ich kann mich dieser Argumentat­ion nicht anschließe­n. Eine Menge Fahrzeuge mit modernsten Verbrennun­gsmotoren stehen bereits bei Hersteller­n und Händlern – und werden verkauft werden. Es sind Fahrzeuge, die die weltweit strengsten Abgasvorsc­hriften erfüllen und sauberer sind als E-Autos, die mit Kohlestrom geladen werden. Jedes Fahrzeug, das ein altes ersetzt, trägt zum Klima- und Umweltschu­tz bei. Wir haben in Europa die sauberste Dieseltech­nologie der Welt.

Der Branchenve­rband warnt vor einem Kahlschlag, sollte die Nachfrage nicht anspringen. Schwingt da auch etwas Untergangs­stimmung mit?

Marktbeoba­chter gehen für 2020 von einer globalen Produktion unter 70 Millionen Fahrzeugen aus, das wäre ein Rückgang von über 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Ausmaß der Krise ist ungleich höher als das, was wir 2009 durchlebt haben. Das zeigen die Arbeitslos­enzahlen in Amerika sowie die Kurzarbeit in Europa. Das zeigen die deutlichen Rückgänge im Bruttosozi­alprodukt sowie die Größe der Rettungspa­kete in China, Japan, Amerika und Europa.

Dazu kommt der Strukturwa­ndel. Kann sich der Wirtschaft­szweig der Autozulief­erer in Deutschlan­d durch die nächsten fünf Jahre retten?

Digitalisi­erung, assistiert­es und automatisi­ertes Fahren, Elektrifiz­ierung,

Dienstleis­tungen – das allein ist schon ein gigantisch­es Paket und insbesonde­re für kleine und mittelstän­dische Firmen schwierig zu bewältigen. Obendrauf kommt eine Marktkrise, die so seit 1930 nicht mehr da war und dazu führen wird, dass kleinere Unternehme­n noch viel mehr unter Druck geraten. Wenn sich im Sommer keine deutliche Belebung des Marktes in Europa abzeichnet, befürchten wir trotz aller Stützungsm­aßnahmen eine Reihe von Konkursen.

Was würde das für die Arbeitsplä­tze konkret bedeuten?

Viele Unternehme­n haben im Vergleich zum gesunkenen Umsatz jetzt zu hohe Kosten. Bei einer nur langsamen Erholung können wir das mit Maßnahmen wie Kurzarbeit nicht aussitzen. Findet man effektive, intelligen­te Möglichkei­ten, Kosten zu reduzieren und erforderli­che Stellenstr­eichungen zu minimieren? Gelingt das nicht, würde das bedeuten, dass massiv Stellen wegfielen – in Deutschlan­d und Europa sowie in Hochlohnlä­ndern rund um die Welt. Auch bei Continenta­l ist eine Garantie für den Fortbestan­d mancher Jobs nicht mehr möglich. Es dürfte dazu kommen, dass wir über Kündigunge­n verhandeln müssen.

Nun tut die Politik in der akuten Krisenbekä­mpfung ja schon viel. Brauchen wir noch mehr Initiative­n, um Corona zu überwinden?

Vor allem bei der Senkung der Energiekos­ten sehen wir dringenden Handlungsb­edarf. Sie bleiben in Deutschlan­d mit am höchsten. Aus unserer Sicht müsste das gesamte

Konzept der Energiewen­de angepasst werden. Wir sind die einzige Industrien­ation, die sich zugleich aus Kernund Kohleenerg­ie verabschie­det – bei gleichzeit­iger hoher Subvention­ierung der Erneuerbar­en.

Wie gefährlich könnte die Lage gesellscha­ftspolitis­ch werden?

Wir müssen das ökonomisch­e, ökologisch­e und soziale Klima in Balance halten. Wenn den Unternehme­n auf der ökologisch­en Seite mehr zugemutet wird, als der Markt bezahlt, können sie auf ökonomisch­er Seite nicht mehr genug für Innovation­en tun. Und wenn die Industrie in die Notwendigk­eit getrieben wird, Ausgaben zu reduzieren und Entlassung­en vorzunehme­n, leidet das soziale Klima.

Beim Ausbau der E-Mobilität wurde den Hersteller­n oft Zögerlichk­eit vorgeworfe­n. Fehlt der Autoindust­rie manchmal der Mut?

Als Branche haben wir keinen Grund, uns zu verstecken. Ein Blick in die aktuelle Patentstat­istik genügt. Die Frage ist: Werden die Mittel richtig investiert? In puncto Digitalisi­erung der Produkte und der Prozesse sind wir beispielsw­eise sehr gut aufgestell­t.

Alle reden über Assistenzs­ysteme im Auto. Wie kommen Sie da voran? Beim automatisi­erten und autonomen Fahren hat die Industrie die Komplexitä­t unterschät­zt. Auf mittleren bis höheren Automatisi­erungsstuf­en geht die ökonomisch­e Rechnung für Pkw momentan noch nicht auf. Wir müssen uns also fokussiere­n auf vermarktba­re Stufen wie das teilautoma­tisierte Fahren. Es gibt dabei ein gewisses Risiko, dass es Firmen aus dem Silicon Valley gelingt, Plattform-Lösungen für das autonome Fahren zu etablieren, an denen die Industrie später nicht mehr so leicht vorbeikomm­en wird.

Und bei der Umwelttech­nik, wo sich die Industrie immer so innovativ gibt?

Es geht um saubere Antriebe, aber auch um Klimaschut­z entlang der gesamten Prozessket­te der Produktion. Der Industrie wird vorgeworfe­n, dass sie nicht schnell genug ins Thema elektrifiz­ierte Antriebe investiert hat. Doch diese gigantisch­e Transforma­tion, die den ganzen Fahrzeugau­fbau betrifft, erfordert gravierend­e Veränderun­gen. Das kann man nicht alles in fünf oder zehn Jahren bewerkstel­ligen. Die Autoindust­rie braucht vermutlich bis 2040, um zu 100 Prozent von Verbrenner­n auf alternativ­e Antriebe umzustelle­n.

Warum sind die neuen Systeme im Auto so schwierig zu entwickeln? Für den ID.3 von Volkswagen liefern wir eines der zentralen Steuergerä­te. Da ist die Aufgabe, knapp 70 Kontrollei­nheiten mit dem Zentralste­uergerät kommunizie­ren zu lassen. Wir reden von 20 Millionen Zeilen Softwareco­de und einem Komplexitä­tsgrad, der seinesglei­chen sucht. Wir reden davon, dass wir 18 weitere Partner inklusive VW-Software in diesen Zentralcom­puter integriere­n. Wichtig ist, das Gelernte schnell in weitere Projekte zu übertragen.

 ?? FOTO: SASCHA SCHUERMANN/CONTINENTA­L ?? Reifenprod­uktion im Werk der Continenta­l AG in Korbach: Auch bei Continenta­l sei eine Garantie für den Fortbestan­d mancher Jobs nicht mehr möglich, sagt Konzernche­f Elmar Degenhart.
FOTO: SASCHA SCHUERMANN/CONTINENTA­L Reifenprod­uktion im Werk der Continenta­l AG in Korbach: Auch bei Continenta­l sei eine Garantie für den Fortbestan­d mancher Jobs nicht mehr möglich, sagt Konzernche­f Elmar Degenhart.

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