„Wenn die Eingrenzung nicht gelingt, sind Maßnahmen nötig“
Virologe Thomas Mertens mahnt auch bei Schulöffnung zur Vorsicht und spricht von „Experiment“mit ungewissem Ausgang
RAVENSBURG - Nach dem CoronaAusbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies werden erstmals in einer Region wieder die Schutzmaßnahmen vom März eingeführt. Spätestens jetzt wächst in Deutschland die Sorge vor einer zweiten Welle. Der Ulmer Virologe Professor Thomas Mertens erklärt im Gespräch mit Theresa Gnann, wann ein Lockdown sinnvoll ist und welche Teststrategie in Schulen verfolgt werden sollte.
Der Vorfall im Kreis Gütersloh zeigt, wie schnell sich das Virus unter bestimmten Voraussetzungen verbreitet. Wann reicht es in solchen Fällen, einen Betrieb zu sperren und ab wann muss es einen Lockdown auf regionaler Ebene geben?
Die „Sperrung“des betroffenen Betriebes ist erforderlich, da die offenbar infektiologisch riskanten Arbeitsbedingungen nicht so schnell geändert werden können und Sicherheit vor weiterer Ausbreitung der Infektionen am Arbeitsplatz nicht erreicht werden kann. Die entscheidende Strategie zur Eindämmung der Infektionszahlen, jetzt nach Beendigung der meisten Schutzmaßnahmen,
ist die rasche Identifizierung aller Kontaktpersonen eines Infektionsherdes, die Testung dieses Personenkreises auf Virusausscheidung (RNA-PCR) und die Anordnung von häuslicher Quarantäne. Dies ist die schwierige Aufgabe der Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, also des Gesundheitsamtes, und kann nur erfolgreich gelingen, solange die Infektionszahlen nicht zu groß sind. Wenn die Eingrenzung und „Austrocknung“des Infektionsausbruches so nicht gelingt, muss man erneut weitere Maßnahmen ergreifen, die sich ja als wirksam erwiesen haben, bis jetzt hin zu einem erneuten regionalen Lockdown. Dies, um eine unkontrollierte weitere Ausbreitung der Infektion in unserer immer noch weitestgehend für die Infektion empfänglichen Bevölkerung zu verhindern.
Immer wieder stecken sich größere Menschenmengen bei einzelnen Veranstaltungen oder in Betrieben an. Trotzdem sollen nach den Sommerferien wieder alle Schüler zur Schule gehen – ohne Abstandsgebote. Halten Sie die Entscheidung der Kultusminister für nachvollziehbar?
Ich denke, dass jeder diese Entscheidung im Prinzip nachvollziehen kann, da der Schulbetrieb nicht endlos ausgesetzt werden kann. Wie dieses „Experiment“ausgehen wird, weiß derzeit niemand. Abstandsgebote wären aus Sicht des Infektiologen sicher gut, aber dies wäre in den meisten Schulformen kaum durchsetzbar. Für Ausbrüche nach Veranstaltungen sind wahrscheinlich sogenannte „Superspreader“verantwortlich, also „Super-Ausscheider, die besonders viele Viren über den Rachen ausscheiden. Diese stellen, vor allem in geschlossenen Räumen, ein besonderes Risiko dar.
Es gibt Diskussionen darüber, wie oft Lehrer, Erzieher und Kinder getestet werden sollen. Was ist Ihrer Meinung nach die richtige Teststrategie?
Im Grunde ist das Prinzip das gleiche wie in der Fleischfabrik: „Tracing and Containment“, also Infektketten früh erkennen und isolieren. Erstens müssen Lehrer und – wahrscheinlich seltener – Schüler mit Symptomen sofort isoliert und auf Virusausscheidung untersucht werden. Die Kontaktpersonen müssen ermittelt werden. Zweitens sollte man regelmäßig sogenannte „Sentineltestungen“durchführen, also kleinere Gruppen von symptomlosen Lehrern und Schülern auf das Vorhandensein von Viren untersuchen, um ein asymptomatisches Ausbruchsgeschehen zu erkennen. Dabei könnte man unter Umständen die Testung von Stuhlproben bei Kindern einbeziehen. Drittens wäre es interessant im Rahmen von gut zu planenden Studien bei Gruppen von Lehrern und Schülern Antikörperbestimmungen durchzuführen, allerdings ist dies eher eine Zusatzinformation.
Forscher aus Oslo und Kiel haben Hinweise gefunden, dass es auch mit der Blutgruppe zusammenhängt, wie groß das Risiko für einen schweren Verlauf ist. Demnach ist die Blutgruppe A gefährdeter als andere. Die Blutgruppe 0 dagegen scheint im Erbgut einen leichten Schutz mitzubringen. Müssen sich Menschen mit Blutgruppe A deshalb Sorgen machen?
Es macht grundsätzlich keinen Sinn, sich Sorgen über Dinge zu machen, die man nicht ändern kann. Unsere Blutgruppe können wir nicht ändern. Es ist richtig, dass verschiedene Forschergruppen bei der groß angelegten Suche nach „genetischer Prädisposition“, also genetischer Veranlagung für schwere Krankheitsverläufe, auf Gene gestoßen sind, die auch die Blutgruppeneigenschaften betreffen. In Deutschland haben wir nach Angaben der Blutspendedienste etwa 41 Prozent Blutgruppe A, 43 Prozent Blutgruppe 0, vier Prozent Blutgruppe AB und neun Prozent Blutgruppe B.