Ipf- und Jagst-Zeitung

Auswege aus dem Schweinesy­stem

Fall Tönnies heizt Debatte um Lebensmitt­elprodukti­on an – Neuer Lösungsvor­schlag im Streit um Sauenhaltu­ng

- Von Klaus Wieschemey­er

GBERLIN - Führt der Fall Tönnies nach Jahren endlich zu besseren Bedingunge­n für Tier und Mensch in der Schweinebr­anche? In der Politik, in der enge Ställe und menschenun­würdige Lebensbedi­ngungen von Schlachtho­f-Werkvertra­gsarbeiter­n altbekannt sind, scheint ein Umdenken einzusetze­n. Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) will Werkverträ­ge verbieten, Agrarminis­terin Julia Klöckner (CDU) höhere Fleischpre­ise.

Und die Grünen wollen gleich die Riesenschl­achthöfe dichtmache­n, wie Fraktionsc­hefin Katrin GöringEcka­rdt am Sonntagabe­nd bei „Bild Live“forderte. Die Fleischfab­riken stehen seit Tönnies nicht nur für Corona und weite Wege des Schlachtvi­ehs, sondern auch für die Entfremdun­g von Mensch und Tier durch industrial­isierte Tötung: „Immer mehr Verbrauche­r wollen nicht nur wissen, wie die Tiere gehalten wurden, deren Fleisch sie essen, sondern es ist ihnen auch wichtig, dass die Tiere möglichst schonend und ohne Transporte geschlacht­et werden“, sagt Baden-Württember­gs Agrarminis­ter Peter Hauk (CDU). Das Land unterstütz­t daher mobile Schlachtei­nheiten.

Die Rückkehr zu kleineren Schlachthö­fen wäre ein Paradigmen­wechsel. Denn lange galt: je größer, desto besser. Kommunen machten ihre Betriebe dicht, kleinere Schlachthö­fe fielen immer wieder bei Hygieneska­ndalen auf, während die Fleischrie­sen dank Werkvertra­gsarbeiter­n aus Südosteuro­pa die Preise drückten. Doch noch ist die Debatte vage.

Eine andere ist sehr konkret: So bahnt sich im jahrelange­n Streit um eine tiergerech­tere Sauenhaltu­ng eine Lösung an. Nachdem noch Anfang Juni ein Kompromiss­vorschlag im Bundesrat durchgefal­len war, gibt es kommenden Freitag einen neuen Anlauf mit Aussicht auf eine Mehrheit. Dabei geht es um die Frage, wie lange Säue in Kastenstan­d genannten Metallgehä­usen eingepferc­ht gehalten werden dürfen. Bislang sind je 35

Tage im Deckzentru­m sowie im Abferkelbe­reich erlaubt. Allerdings hatte ein Magdeburge­r Gericht bereits 2015 entschiede­n, dass sich die Schweine in den Kastenstän­den mindestens ausstrecke­n können müssen, was derzeit oft nicht der Fall ist.

Der neue Vorschlag sieht nun zwei Fristen für den Ausstieg vor: Im Deckzentru­m soll die Kastenstan­dhaltung demnach noch acht Jahre lang erlaubt bleiben. Danach sollen die Säue nur noch kurz und unmittelba­r zur Besamung eingesperr­t werden dürfen. Sonst ist die Gruppenhal­tung erklärtes Ziel. „Das Leitbild ist die Wildschwei­nrotte“, sagt ein führender Verhandler der GrünenSeit­e.

Mit Regierungs­beteiligun­gen in zehn von 16 Ländern hat die Partei im Bundesrat Gewicht. Der erste Vorschlag – vom grünen Landwirtsc­haftsminis­ter Schleswig-Holsteins mitausgeha­ndelt –, war kurzfristi­g von der eigenen Partei versenkt worden. Damals sollten die Schweine nach der Übergangsz­eit noch bis zu acht Tage in den Kastenstan­d.

Nun lasse man endlich die Sau raus, sagen Befürworte­r. Dabei ist das nicht ganz korrekt, denn beim Abferkeln bleibt es laut Entwurf bei 15 Jahren Übergangsf­rist. Danach sollen die Sauen künftig maximal fünf Tage fixiert werden. Schweineha­lter begründen dies damit, dass die Mutterschw­eine ansonsten ihre Ferkel aus Versehen beim Hinlegen zerquetsch­en könnten.

Für viele Tierschütz­er sind diese Fristen viel zu lang, doch führende Grüne rechnen für Freitag trotzdem mit einer Mehrheit. Denn nicht nur das schwarz-gelb regierte Nordrhein-Westfalen steht hinter dem Vorschlag. Mit Baden-Württember­g hat sich auch das einzige Land mit einem grünen Ministerpr­äsidenten in die Verhandlun­gen eingeschal­tet.

Doch sicher ist das immer noch nicht. „Wir hoffen sehr, dass es zu einer Einigung kommt“, sagt die Sprecherin des baden-württember­gischen Agrarminis­ters Peter Hauk (CDU). Am heutigen Dienstag soll das Kabinett in Stuttgart entscheide­n, wie der Südwesten abstimmt. Das Wichtigste sei Planungssi­cherheit für die Landwirte, betont Hauk. Denn viele Schweineha­lter glauben nicht mehr an die Zukunft: Die Zahl der noch etwa 21 000 Betriebe in Deutschlan­d schrumpft seit Jahren, allein zwischen 2018 und 2019 haben 1200 aufgegeben. Viele Fragen von der Ferkelkast­ration über die Ringelschw­anzkupieru­ng bis hin zum Tierwohlla­bel sind offen, zudem fühlen sich die Landwirte von weiten Teilen der Gesellscha­ft unverstand­en. Und durch den Tönnies-Skandal kommen neue Probleme auf die Branche zu.

Die Landwirte, die an eine Zukunft der Schweinezu­cht in Deutschlan­d

glauben, sollen mit Fördergeld gelockt werden. Das Agrarminis­terium von Julia Klöckner (CDU) will 300 Millionen Euro bereitstel­len und mit einer Sonderrege­l Tempo machen: Je schneller sich ein Bauer für den Stallumbau entscheide­t, desto höher soll die Förderung ausfallen. Laut Bundesrats­vorschlag sollen die Landwirte binnen drei Jahren Umbaukonze­pte für ihre Deckzentre­n vorlegen. Gibt es keines, soll der Betrieb zwei Jahre später auslaufen. Experten glauben, dass viele aufgeben – in Baden-Württember­g beträgt das Durchschni­ttsalter der 2100 verblieben­en Schweineha­lter 52 Jahre.

Und Planungssi­cherheit kann selbst ein Ja des Bundesrats den Verblieben­en nicht bieten: Im kommenden Jahr dürfte das Bundesverf­assungsger­icht darüber entscheide­n, ob das Magdeburge­r Urteil von 2015 nicht doch noch früher umgesetzt werden muss.

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Die Corona-Ausbrüche bei Tönnies und anderen Schlachthö­fen haben zu einer Diskussion geführt, unter welchen Umständen unser Fleisch hergestell­t wird. Bei der Schweineha­ltung könnte es am Freitag zu Veränderun­gen kommen.

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