Die Marienpflege wird 190 Jahre alt
1830 wurde in dem leer geräumten Kapuzinerkloster eine Kinderrettungsanstalt eingerichtet
GELLWANGEN - Eigentlich wollte das Kinder- und Jugenddorf in diesem Jahr ein Jubiläum feiern. Denn vor 190 Jahren wurde die Einrichtung als „Kinderrettungsanstalt Marienpflege“ins Leben gerufen. Doch dann kam die Corona-Pandemie, und das Vorhaben wurde abgeblasen. Ein Blick in die Geschichte des Kinderund Jugenddorfes zeigt, dass die Marienpflege im Laufe von fast zwei Jahrhunderten immer wieder schwierige Zeiten überstehen musste, und letztendlich gut bewältigt hat. Die Feier soll nächstes Jahr nachgeholt werden.
Der Vorstand der Marienpflege, Ralf Klein-Jung, hat eifrig im Archiv gestöbert und einiges an Interessantem zu Tage gefördert. „Im Keller der Marienpflege liegt Gold“, sagt er. So finden sich nahezu die kompletten Kinderakten im Archiv, außerdem viele Kassenbücher, landwirtschaftliche Inventarbücher, Schullisten und Klassenbücher.
1729 hatten sich in Ellwangen Kapuziner aus Bayern niedergelassen. Am 13. April 1730 wurde der Grundstein der Kirche gelegt. 1803 wurde das Kloster säkularisiert: Gottesdienste und Seelsorge waren untersagt. Ende 1829 verfügte der württembergische König Wilhelm I. die Räumung des Gebäudes, die am 10. Februar 1830 erfolgte.
Zur Nutzung des Gebäudes griff der Ellwanger Oberamtmann, Viktor Sandberger, die Anregung von Königin Katharina auf, Kinderrettungsanstalten für verwaiste, verwahrloste und herumstreunende Kinder zu errichten. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führe Armut zu
Bettelei und Diebstahl, Gewalttaten oder Tod durch Verhungern. Der Protestant Sandberger wurde zusammen mit einer Gruppe von „Menschenfreunden“in Ellwangen der Gründer der Marienpflege.
König Wilhelm I. hatte das säkularisierte Kapuzinerkloster am 7. Juni 1830 unentgeltlich für die Kinderrettungsanstalt zur Verfügung gestellt. Am 8. Juli 1830 beschloss die Amtsversammlung die Statuten der „Anstalt für sittlich verwahrloste Kinder“. Namensgeberin war Prinzessin Marie, die älteste Tochter König Wilhelms.
Am 8. Juli 1831 wurde die Marienpflege mit 43 Kindern feierlich in Betrieb
genommen: 25 Jungs und 18 Mädchen, evangelische und katholische, zogen ein. Nachdem sich 1860 in Aalen ein Verein für evangelische Kinderrettungsanstalten gegründet hatte, wurden in der Marienpflege ab 1861 für die nächsten Jahrzehnte nur noch katholische Kinder aufgenommen. Seit Beginn mussten die einweisenden Gemeinden Kostgelder zahlen.
Die Kinder trugen Anstaltskleidung, das Essen war einfach (meistens gab es Brotsuppe), die Schule streng, die Mitarbeit auf dem Bauernhof selbstverständlich, die Berufsund Lebensperspektiven düster. Der „Hausvater“war Heimleiter, Lehrer und Bauer zugleich, seine Frau nahm die 80 Waisenkinder zu sich in die Familie auf. 1857 waren es knapp 100 Schüler.
Die Knaben lernten Körbe flechten, Bürsten binden, Bänder weben, Schuhe fertigen. Sie mussten Holz sägen und spalten und Socken stricken. Die Mädchen lernten Nähen, Spinnen und Stricken sowie häusliche Arbeiten. Auf Zucht und Ordnung wurde großer Wert gelegt. Hausordnung und Erziehungsmethoden waren militärisch streng. Genussmitteldiebstahl oder Trotz gegen Aufsichtspersonen wurde mit 20 oder mehr Stockhieben und mit Vesperentzug bestraft. Beim Vollzug der Stockhiebe mussten sämtliche Zöglinge anwesend sein.
Als um 1880 eine Diphterie-Epidemie ausbrach, überließ die Hausmutter ihre eigenen Kinder dem Hausvater, um sich mehrere Wochen lang zur Pflege der Waisenkinder isolieren zu lassen – auch auf die Gefahr hin, selbst Opfer der Krankheit zu werden. Damals starben vier Kinder, 15 weitere waren sterbenskrank.
1908 konnten die damals 79 Kinder aus dem baufälligen Klostergebäude ausziehen, denn ein großer und zeitgemäßer Neubau war fertiggestellt worden. 1908 kamen auch Franziskanerinnen aus dem Kloster Sießen als erste Ordensfrauen und übernahmen die Verantwortung für den Betrieb. Im Ersten Weltkrieg wurde der Bau als Lazarett genutzt, die Kinder mussten wieder in den Altbau und in innerstädtische Gebäude umziehen. Mit Kaplan Matthäus Kolb begann 1927 die Ära der geistlichen Hausleitungen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das
Jugendstilgebäude wieder als Lazarett genutzt. Unter der Leitung des Hausvaters und Widerstandskämpfers Kaplan, Rudolf Renz, wurden viele Kinder bis zu zwei Jahre nach Matzenbach, Unterdeufstetten, Schwäbisch Gmünd und Mulfingen ausgelagert, um sie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen. Durch dieses Verlegen und Verstecken der Kinder fanden keine Sterilisationen statt und kein Kind kam ums Leben. 1945 kamen die Kinder zurück. Viele von ihnen mussten nach ihrer Rückkehr mehrere Tage in Quarantäne verbringen, da sie völlig verlaust waren und diverse Krankheiten mitgebracht hatten. Bei Kriegsende hatte die Marienpflege 130 Zöglinge, ein Jahr später 190. In den Nachkriegsjahren nahm man herumstreunende Kinder auf und verpflegte sie kostenlos, bis sie weiterziehen konnten – jährlich etwa 1500 Kinder. 1954 wurde die Knabenkapelle der Marienpflege gegründet, das heutige Jugendblasorchester.
In den vergangenen 190 Jahren haben über 7000 Kinder in der Marienpflege gelebt, weiß der Vorstand der Marienpflege, Ralf Klein-Jung: „Zu fast jedem Kind ist eine Akte da – und griffbereit.“Klein-Jung ist seit 2005 am Kinder- und Jugenddorf.