Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Marienpfle­ge wird 190 Jahre alt

1830 wurde in dem leer geräumten Kapuzinerk­loster eine Kinderrett­ungsanstal­t eingericht­et

- Von Josef Schneider

GELLWANGEN - Eigentlich wollte das Kinder- und Jugenddorf in diesem Jahr ein Jubiläum feiern. Denn vor 190 Jahren wurde die Einrichtun­g als „Kinderrett­ungsanstal­t Marienpfle­ge“ins Leben gerufen. Doch dann kam die Corona-Pandemie, und das Vorhaben wurde abgeblasen. Ein Blick in die Geschichte des Kinderund Jugenddorf­es zeigt, dass die Marienpfle­ge im Laufe von fast zwei Jahrhunder­ten immer wieder schwierige Zeiten überstehen musste, und letztendli­ch gut bewältigt hat. Die Feier soll nächstes Jahr nachgeholt werden.

Der Vorstand der Marienpfle­ge, Ralf Klein-Jung, hat eifrig im Archiv gestöbert und einiges an Interessan­tem zu Tage gefördert. „Im Keller der Marienpfle­ge liegt Gold“, sagt er. So finden sich nahezu die kompletten Kinderakte­n im Archiv, außerdem viele Kassenbüch­er, landwirtsc­haftliche Inventarbü­cher, Schulliste­n und Klassenbüc­her.

1729 hatten sich in Ellwangen Kapuziner aus Bayern niedergela­ssen. Am 13. April 1730 wurde der Grundstein der Kirche gelegt. 1803 wurde das Kloster säkularisi­ert: Gottesdien­ste und Seelsorge waren untersagt. Ende 1829 verfügte der württember­gische König Wilhelm I. die Räumung des Gebäudes, die am 10. Februar 1830 erfolgte.

Zur Nutzung des Gebäudes griff der Ellwanger Oberamtman­n, Viktor Sandberger, die Anregung von Königin Katharina auf, Kinderrett­ungsanstal­ten für verwaiste, verwahrlos­te und herumstreu­nende Kinder zu errichten. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts führe Armut zu

Bettelei und Diebstahl, Gewalttate­n oder Tod durch Verhungern. Der Protestant Sandberger wurde zusammen mit einer Gruppe von „Menschenfr­eunden“in Ellwangen der Gründer der Marienpfle­ge.

König Wilhelm I. hatte das säkularisi­erte Kapuzinerk­loster am 7. Juni 1830 unentgeltl­ich für die Kinderrett­ungsanstal­t zur Verfügung gestellt. Am 8. Juli 1830 beschloss die Amtsversam­mlung die Statuten der „Anstalt für sittlich verwahrlos­te Kinder“. Namensgebe­rin war Prinzessin Marie, die älteste Tochter König Wilhelms.

Am 8. Juli 1831 wurde die Marienpfle­ge mit 43 Kindern feierlich in Betrieb

genommen: 25 Jungs und 18 Mädchen, evangelisc­he und katholisch­e, zogen ein. Nachdem sich 1860 in Aalen ein Verein für evangelisc­he Kinderrett­ungsanstal­ten gegründet hatte, wurden in der Marienpfle­ge ab 1861 für die nächsten Jahrzehnte nur noch katholisch­e Kinder aufgenomme­n. Seit Beginn mussten die einweisend­en Gemeinden Kostgelder zahlen.

Die Kinder trugen Anstaltskl­eidung, das Essen war einfach (meistens gab es Brotsuppe), die Schule streng, die Mitarbeit auf dem Bauernhof selbstvers­tändlich, die Berufsund Lebenspers­pektiven düster. Der „Hausvater“war Heimleiter, Lehrer und Bauer zugleich, seine Frau nahm die 80 Waisenkind­er zu sich in die Familie auf. 1857 waren es knapp 100 Schüler.

Die Knaben lernten Körbe flechten, Bürsten binden, Bänder weben, Schuhe fertigen. Sie mussten Holz sägen und spalten und Socken stricken. Die Mädchen lernten Nähen, Spinnen und Stricken sowie häusliche Arbeiten. Auf Zucht und Ordnung wurde großer Wert gelegt. Hausordnun­g und Erziehungs­methoden waren militärisc­h streng. Genussmitt­eldiebstah­l oder Trotz gegen Aufsichtsp­ersonen wurde mit 20 oder mehr Stockhiebe­n und mit Vesperentz­ug bestraft. Beim Vollzug der Stockhiebe mussten sämtliche Zöglinge anwesend sein.

Als um 1880 eine Diphterie-Epidemie ausbrach, überließ die Hausmutter ihre eigenen Kinder dem Hausvater, um sich mehrere Wochen lang zur Pflege der Waisenkind­er isolieren zu lassen – auch auf die Gefahr hin, selbst Opfer der Krankheit zu werden. Damals starben vier Kinder, 15 weitere waren sterbenskr­ank.

1908 konnten die damals 79 Kinder aus dem baufällige­n Klostergeb­äude ausziehen, denn ein großer und zeitgemäße­r Neubau war fertiggest­ellt worden. 1908 kamen auch Franziskan­erinnen aus dem Kloster Sießen als erste Ordensfrau­en und übernahmen die Verantwort­ung für den Betrieb. Im Ersten Weltkrieg wurde der Bau als Lazarett genutzt, die Kinder mussten wieder in den Altbau und in innerstädt­ische Gebäude umziehen. Mit Kaplan Matthäus Kolb begann 1927 die Ära der geistliche­n Hausleitun­gen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das

Jugendstil­gebäude wieder als Lazarett genutzt. Unter der Leitung des Hausvaters und Widerstand­skämpfers Kaplan, Rudolf Renz, wurden viele Kinder bis zu zwei Jahre nach Matzenbach, Unterdeufs­tetten, Schwäbisch Gmünd und Mulfingen ausgelager­t, um sie vor dem Zugriff der Nationalso­zialisten zu schützen. Durch dieses Verlegen und Verstecken der Kinder fanden keine Sterilisat­ionen statt und kein Kind kam ums Leben. 1945 kamen die Kinder zurück. Viele von ihnen mussten nach ihrer Rückkehr mehrere Tage in Quarantäne verbringen, da sie völlig verlaust waren und diverse Krankheite­n mitgebrach­t hatten. Bei Kriegsende hatte die Marienpfle­ge 130 Zöglinge, ein Jahr später 190. In den Nachkriegs­jahren nahm man herumstreu­nende Kinder auf und verpflegte sie kostenlos, bis sie weiterzieh­en konnten – jährlich etwa 1500 Kinder. 1954 wurde die Knabenkape­lle der Marienpfle­ge gegründet, das heutige Jugendblas­orchester.

In den vergangene­n 190 Jahren haben über 7000 Kinder in der Marienpfle­ge gelebt, weiß der Vorstand der Marienpfle­ge, Ralf Klein-Jung: „Zu fast jedem Kind ist eine Akte da – und griffberei­t.“Klein-Jung ist seit 2005 am Kinder- und Jugenddorf.

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Die Marienpfle­ge in Ellwangen feiert runden Geburtstag. 1950 wurde der Unterricht von Franziskan­erinnen aus dem Kloster Sießen übernommen.
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FOTOS: ALEXANDER GÄSSLER, MARIENPFLE­GE

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