Eine neue Qualität der Gewalt
Verfassungsschutzbericht verzeichnet Zunahme von extremistischen Straftaten
GBERLIN - Endlich ist er da. Die Verschiebung von Pressekonferenzen gehörte in den vergangenen Jahren zu den Angewohnheiten von Bundesinnenminister Horst Seehofer. Und auch in diesem Jahr verschob der CSU-Politiker die Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes um ganze zwei Wochen. Beim ersten Termin waren gerade in Stuttgart randalierende Menschen durch die Innenstadt gezogen und hatten Verwüstungen angerichtet. Außerdem hing ihm dann eine Auseinandersetzung mit einer Journalistin der linksalternativen „tageszeitung“an, der er eine Anzeige angedroht hatte – und das später wieder zurücknahm.
Am Donnerstag saß er nun, in sich ruhend, vor den Berliner Journalisten und beschrieb, warum noch nie eine Regierung so viel gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus getan habe wie die gegenwärtige. Immerhin seien diese Bereiche „die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland“, wie der CSU-Politiker sagte. Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt seien massiv personell aufgestockt worden und eine Reihe von Gesetzen erlassen worden – vom Vorgehen gegen Hasskriminalität bis hin zur Neufassung des Waffenrechts.
Was ihm dennoch nachhing, ist – wieder einmal – die Berichterstattung der vor ihm Sitzenden, die ihm nicht passte. Da ist zum einen der Rückzieher, den sein Ministerium bei einer Studie zum sogenannten Racial Profiling gemacht hat, der anlasslosen Kontrolle von Menschen durch die Polizei aufgrund optischer Merkmale wie Hautfarbe oder Herkunft. Eine solche Untersuchung hatte eine Kommission des Europarates der Bundesregierung empfohlen. Seehofer will sie, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Und auch ein geplantes Lagebild zu rechtsextremistischen Einstellungen im Öffentlichen Dienst ist langsamer im Entstehen als zunächst erwartet. Dass er nun dafür angezählt wird, fuchste ihn sichtlich. „Ich kann nur etwas absagen, was ich mal zugesagt habe“, verteidigte er sich. Mit der Racial-Profiling-Studie sei er nicht befasst gewesen. Und was das Lagebild betrifft, werde Ende September ein erster Teilbericht vorgelegt. Einige Länder hätten Probleme bei der Zusammenstellung der Daten. Gerade erst hatte die hessische Linksfraktion publik gemacht, dass ihre Chefin Janine Wissler rechtsextremistische Drohschreiben erhalten hatte, die mit „NSU 2.0“unterzeichnet waren und persönliche Informationen enthielten. Es lägen Indizien vor, dass diese aus einem Polizeicomputer in
Wiesbaden stammten. Wie ernst ihm das Thema Extremismus ist, machten Seehofer und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bei der Vorstellung des Berichts jedenfalls klar. Haldenwang betonte, ihn besorge, dass „die Gewaltbereitschaft in allen Phänomenbereichen steigt“. Insgesamt zählte seine Behörde im vergangenen Jahr deutschlandweit 32 000 Rechtsextremisten, ein Anstieg von einem Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Diese Zunahme hatte allerdings damit zu tun, dass rund 7000 Mitglieder der AfDGruppierung „Flügel“als gesichert rechtsextrem eingestuft wurden und deshalb in der Statistik auftauchen. Die grausamen Taten von Anhängern der Szene – die Morde am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Wolfhagen und an zwei Unbeteiligten nach dem versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Halle – seien der Beleg, dass man nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität derartiger Taten beachten müsse, erklärte Haldenwang. Es gebe einen regelrechten Wettbewerb darum, wer die höchste Zahl von Opfern vorweisen könne, einen „Highscore an Toten“. „Diesen Trend müssen wir durchbrechen“, erklärte der Verfassungsschutzchef.
In absoluten Zahlen ging die Zahl der Gewalttaten sowohl im rechten als auch im linken Spektrum um 15 Prozent (auf insgesamt 925) beziehungsweise zehn Prozent (auf insgesamt 921) zurück. Gleichwohl äußerte Haldenwang seine Besorgnis, dass auch Linksextremisten zunehmend auf „enthemmte Gewalt“setzten. Obwohl es im vergangen Jahr kein besonderes Großereignis gab, was Linksextreme angezogen habe, nahm die Zahl ihrer Straftaten um fast 40 Prozent auf 6449 zu. Neben einem dreistelligen Millionenschaden durch Sachbeschädigung habe es auch Gewalt gegen Personen gegeben, etwa in Leipzig, Berlin und Halle. Dabei verließen immer mehr Angehörige den bisherigen Szenekonsens, dass man Gewalt gegen Personen ausschließe. „Wir haben es hier mit einer ganz neuen Qualität zu tun“, sagte Haldenwang. Im Bericht ist auch von zwei versuchten Tötungen die Rede. Im Jahr zuvor hatte es das nicht gegeben. Um auch die propagandistische Quelle dieser Gewalt abzudrehen, stufte er jetzt auch die Internetplattform indymedia.de als Verdachtsfall einer verfassungsfeindlichen Bestrebung ein.
Seehofer fühlte sich jedenfalls in seiner These bestätigt. „Es gibt auch die Gewalt durch Worte, durch Hetze“, sagte er. Einer zunehmenden Enthemmung der Sprache folge immer öfter auch tatsächliche Gewalt, von rechts wie von links. Das sei eine „sorgenvolle Geschichte“.