Neues Leben für alte Gleise
Stillgelegte Bahnstrecken sollen reaktiviert werden – Rund 300 Städte und Gemeinden könnten wieder ans Netz angeschlossen werden
GBERLIN - Statt Gleise raus soll es bald wieder Gleise rein heißen. 4 016 Kilometer lang sind die stillgelegten Bahntrassen, die bald wieder genutzt werden könnten. Das haben der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene ermittelt. Allein in Baden-Württemberg kommen Strecken von 178 Kilometern für den Personenverkehr und 25 Kilometern für den Güterverkehr für eine neuerliche Nutzung infrage.
Die Reaktivierung wäre die Umkehr einer früheren Bahnpolitik. Insbesondere zu Beginn des Jahrhunderts wurden viele Strecken stillgelegt. Von einst 44 600 Gleiskilometern sind heute noch 38 500 übrig geblieben. Insbesondere die Anbindung ländlicher Regionen blieb dabei auf der Strecke. Ein Reaktivierungsprogramm könnte in Zukunft wieder Züge in diese Gebiete rollen lassen. Die Analyse der Verbände zeigt, dass davon 291 Städte und Gemeinden profitieren können. Drei Millionen Einwohner könnten so an eine neue Zugverbindung angebunden werden.
„Mit der Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken können wir den jahrzehntelangen Rückzug der Schiene aus der Fläche stoppen und umdrehen“, sagt Dirk Flege von der Schienenallianz. Innerhalb eines Jahres
seien bundesweit bereits sechs Strecken wieder in Betrieb genommen worden. Insgesamt sind dafür 238 Verbindungen geeignet. Bei vielen anderen Ex-Trassen ist dies nicht mehr möglich, weil zum Beispiel der Grund darunter verkauft oder bebaut worden ist.
Lange wurde die Forderung nach der Wiederbelebung von Gleisen als zu teuer und unwirtschaftlich abgetan. Der Bund sah dafür auch keine Förderung vor. Das Blatt hat sich in den vergangenen Jahren aber gewendet. Alle Städte mit wenigstens 100 000 Einwohnern sollen wieder ans Fernverkehrsnetz angeschlossen werden. Der kürzlich verabschiedete Schienenpakt bestätigte das Ziel, das Fahrgastaufkommen bis zum Ende des Jahrzehnts zu verdoppeln. „Wenn die Eisenbahn das Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts werden soll“, betont Flege, „müssen wir das ganze Land im Blick haben.“Es gehe um Klimaschutz, aber auch um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. 70 Prozent der Menschen leben in Mitteloder Kleinstädten und im ländlichen Raum. Die Chancen für die Umsetzung
der Vorschläge stehen derzeit nicht schlecht. Denn mit der Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) hat der Bund wieder eine Förderung von 90 Prozent für die Reaktivierung von Strecken eingeführt. Auf Ebene der Länder und Kommunen habe dies schon umfangreiche Aktivitäten ausgelöst, beobachtet Jörgen Boße, der beim VDV für die Infrastruktur zuständig ist. „Wir rechnen damit, dass dadurch die Wiederbelebung in den kommenden Jahren erheblich Fahrt aufnimmt“, sagt er.
Auch aus der Politik kommt Rückenwind, sowohl von der Regierung als auch von der Opposition. Verkehrsminister Andreas Scheuer will einen schnellen Ausbau des Bahnnetzes und neben höheren Kapazitäten an den Knotenpunkten und dem Neubau von Schnellstrecken auch die Wiederbelebung vorantreiben. Der bahnpolitische Sprecher der Grünen, Matthias Gastel, fordert ein Sonderprogramm des Bundes, damit die alten Korridore schnell wieder in Betrieb genommen werden können. „Auf diese Weise können viele Regionen mit ihren Klein- und Mittelstädten wieder an das Schienennetz angebunden werden“, verspricht Gastel. Auch die Planungen und Genehmigungsverfahren müssten beschleunigt werden.