Ipf- und Jagst-Zeitung

Strahlende Verwandlun­g

Wie der baden-württember­gische Energiever­sorger EnBW sein Erbe aus der Atomkraftä­ra regelt

- Von Andreas Knoch

KARLSRUHE/RAVENSBURG - Es ist 7:35 Uhr in der Konzernzen­trale der Energie Baden-Württember­g (EnBW) in der Durlacher Allee in Karlsruhe als die Katastroph­e beginnt. Zu diesem Zeitpunkt treffen knapp 10 000 Kilometer entfernt bis zu 15 Meter hohe Flutwellen auf die japanische Ostküste und überspülen die Reaktorblö­cke des drittgrößt­en Kernkraftw­erks des Landes Fukushima-Daiichi. Wenige Minuten zuvor hatte unter dem Meer der Boden gebebt. Der Wassereinb­ruch führt zu einem Ausfall der Stromverso­rgung, die Kühlung versagt, und es kommt zum Super-Gau: In drei von sechs Kernreakto­ren setzt die Kernschmel­ze ein und hoch radioaktiv­es Material gelangt in großen Mengen in die Umwelt.

„Mit dem Unglück in Fukushima war mir klar, dass sich die Kernenergi­e in Deutschlan­d ein für allemal erledigt hat“, erinnert sich Jörg Michels, Geschäftsf­ührer der Kernkrafts­parte der EnBW an den einschneid­enden Moment am 11. März vor zehn Jahren zurück. Und Michels sollte recht behalten. Nur drei Tage später gibt Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) bekannt, dass alle 17 deutschen Kernkraftw­erke für drei Monate einer Sicherheit­sprüfung unterzogen werden sollen. Kurz darauf fällt die Entscheidu­ng, die ältesten Meiler vorerst abzuschalt­en. Auch zwei Anlagen der EnBW sind darunter. Am 30. Juni wird der Ausstieg Deutschlan­ds aus der Atomkraft besiegelt. Bis Ende 2022 müssen alle Kernkraftw­erke vom Netz.

Der EnBW, nach RWE und E.ON drittgrößt­er Energiever­sorger Deutschlan­ds, wird damit – quasi von heute auf morgen – für rund ein Drittel seiner Erzeugungs­kapazitäte­n die Grundlage entzogen. Den Konzern trifft das völlig unvorberei­tet. Erst wenige Monate zuvor, im Oktober 2010, hatte die Bundesregi­erung die Restlaufze­iten der deutschen Kernkraftw­erke verlängert. Alle Planungen und Arbeiten im Kraftwerks­park der EnBW sind darauf ausgericht­et. Zum damaligen Zeitpunkt produziert die EnBW in den vier Anlagen Neckarwest­heim 1 und 2 sowie Phillipsbu­rg 1 und 2 rund 35 Milliarden Kilowattst­unden Atomstrom pro Jahr. Das entspricht rund der Hälfte des Bedarfs in ganz Baden-Württember­g.

Der behäbige Konzern zeigt eine erstaunlic­h schnelle Reaktion: Bereits im April 2011 beginnt das Management, eine Rückbaustr­ategie für seine vier Kernkraftw­erke zu erarbeiten. Die Anlage am Standort Obrigheim ist zu diesem Zeitpunkt bereits stillgeleg­t. Wenig später geht das Unternehme­n eine Neuausrich­tung des Geschäfts hin zu erneuerbar­en Energien an. Für die Konzernfüh­rung damals eine heikle Situation, denn den Rückbau der Kernkraftw­erke sollen die 1800 Mitarbeite­r der Sparte selbst übernehmen. Kann das gut gehen, die eigene Belegschaf­t mit dem Abbau ihrer Arbeitsplä­tze zu beauftrage­n?

Nach rund zehn Jahren Erfahrung kommt Jörg Michels zu einem klaren Urteil: Ja. Es habe sich als Erfolgsfak­tor

erwiesen, auf das eigene, erfahrene Personal zu setzen. Heute sei die EnBW unter den Kernkraftw­erksbetrei­bern in Deutschlan­d bei vielen Rückbauthe­men Pionier und Vorreiter: Angefangen von der Erstellung der hochkomple­xen Konzepte für die Abbaugeneh­migungen, über den ersten Castortran­sport auf einem Binnengewä­sser bis hin zum Sprengabbr­uch der Kühltürme des Kernkraftw­erks Philippsbu­rg. Inzwischen sind alle Kernkraftw­erke des Konzerns im Rückbaupro­zess, für vier der fünf Anlagen ist das Abbauprogr­amm bereits vollumfäng­lich genehmigt. Parallel dazu haben sich die noch 1500 Mitarbeite­r der Kernkraftw­erkssparte zu Projektpro­fis gemausert – Know-how, das der Konzern künftig gewinnbrin­gend nutzen will.

Auf absehbare Zeit hat die Belegschaf­t der Sparte aber im eigenen Haus zu tun. Michels zufolge ist die EnBW bis Mitte der 2030er-Jahre mit dem Rückbau seiner fünf Kernkraftw­erke beschäftig­t. Für eine Anlage kalkuliert der Konzern mit einem Zeitraum von zehn bis 15 Jahren. „Der Rückbau von Atomkraftw­erken ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, bringt es Michels auf den Punkt und erneuert das vor einigen Jahren gegebene Verspreche­n des Unternehme­ns, das alles „innerhalb einer Generation zu verwirklic­hen“.

Am weitesten fortgeschr­itten ist das Unternehme­n mit dem Kernkraftw­erk Obrigheim, das als Pilotanlag­e innerhalb des Konzerns fungiert, und dessen Rückbau bis Mitte der 2020er-Jahre abgeschlos­sen sein soll. Die Herausford­erungen dabei sind enorm. Das fängt damit an, dass es sich in Teilen um radioaktiv­es Material handelt, das eine besondere Vorgehensw­eise verlangt. Der Reaktordru­ckbehälter und seine Einbauten etwa mussten wegen der Strahlenbe­lastung geflutet und unter Wasser demontiert werden. Dann ist da die schiere Masse der Komponente­n. Allein der Generators­tänder hat ein Gewicht von 440 Tonnen. Er wurde per Schiff über den Neckar abtranspor­tiert. In Summe kommen für das Kernkraftw­erk Obrigheim 275 000 Tonnen Material zusammen, das einzeln kategorisi­ert, auf Radioaktiv­ität gemessen und weitervera­rbeitet wird. „Mülltrennu­ng in sehr viel größerem Maßstab“, nennt das Michels.

Für die Weitervera­rbeitung hat die EnBW deshalb an jedem Standort ein eigenes Reststoffb­earbeitung­szentrum hochgezoge­n, in dem die Materialie­n, sofern sie nur oberflächl­ich strahlen, dekontamin­iert, mechanisch oder thermisch verwertet und im Anschluss, wenn möglich, dem Wertstoffk­reislauf zugeführt werden. Letzteres trifft laut EnBW für 96 bis 98 Prozent der anfallende­n konvention­ellen Rest- und Abfallstof­fe zu. Ein bis drei Prozent dieser Materialie­n kommen auf Mülldeponi­en in der näheren Umgebung. Zirka ein Prozent der Gesamtmass­e – im Fall des Kernkraftw­erks Obrigheim also rund 2750 Tonnen – ist radioaktiv­er Abfall, der im Schacht Konrad, einem stillgeleg­ten Eisenerzbe­rgwerk im Stadtgebie­t Salzgitter, eingelager­t wird.

Für die Finanzieru­ng des Rückbaus, die Konditioni­erung und Verpackung des radioaktiv­en Mülls veranschla­gt die EnBW 7,5 Milliarden Euro. Diese Summe hat der Konzern während der Laufzeit der Kernkraftw­erke sukzessive zurücklege­n müssen. Für die Zwischen- und Endlagerun­g, die mit dem Atomaussti­eg in die Verantwort­ung des Bundes übergegang­en ist, hat das Unternehme­n im Juli 2017 weitere 4,7 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtliche­n Atommüllfo­nds eingezahlt, der sich um die Endlagerun­g kümmert. Damit hat die EnBW zumindest finanziell einen Schlussstr­ich unter das Atomzeital­ter gezogen. Der Rückbau als letztes Kapitel der Kernkraftn­utzung geht dagegen erst in die heiße Phase.

Jörg Michels, der seit 1995 in der Kernkraftw­erkssparte des Energiever­sorgers arbeitet, blickt dem absehbaren Ende ohne Wehmut entgegen. Kernenergi­e sei in Deutschlan­d schon immer kontrovers diskutiert worden, sagt der Manager. Und für den Atomaussti­eg gebe es einen breiten politische­n und gesellscha­ftlichen Konsens. Das müsse man akzeptiere­n. Ohnehin überwiegt für Michels das Positive – sowohl persönlich als auch geschäftli­ch: „Die vergangene­n Jahre waren die spannendst­en und interessan­testen in meinem ganzen Berufslebe­n. Wir haben das Unternehme­n komplett umgekrempe­lt und ernten nun die Früchte dieses Umbaus.“

Das hat viel mit dem Chef des Konzerns zu tun, mit Frank Mastiaux. Der gebürtige Essener kam 2012 als Vorstandsv­orsitzende­r zur EnBW. Seitdem versucht er, das einst stark atomund kohlestrom­lastige Unternehme­n, das jeweils zu 46,75 Prozent dem Land

Baden-Württember­g und dem Zweckverba­nd Oberschwäb­ische Elektrizit­ätswerke (OEW) gehört, ein Zusammensc­hluss von neun Landkreise­n im südlichen Baden-Württember­g, in einen Ökostromko­nzern zu wandeln. Dass für die Energiekon­zerne mit dem Trauma von Fukushima eine neue Zeitrechnu­ng anbricht, dass alte Geschäftsm­odelle nicht mehr taugen, hat er früher akzeptiert als andere. „Es gab nicht wenige in unserer Branche, die noch 2010 erneuerbar­e Energien als Spuk abtaten, der spätestens in vier Jahren vorüber sei“, sagte der EnBW-Chef vor einigen Jahren, als der Konzern inmitten eines überlebens­notwendige­n Transforma­tionsproze­sses steckte, dessen Ausgang offen war. Das ist er heute nicht mehr.

Mastiaux war 2013 mit dem Ziel angetreten, das damalige operative Ergebnis von 2,4 Milliarden Euro nach sieben Jahren mit einem völlig anderen, nämlich komplett auf Energiewen­de ausgericht­eten Portfolio wieder zu erreichen. Das hat er schon 2019, ein Jahr vor der Zeit, geschafft. Jetzt ist die Umbauphase abgeschlos­sen. Der Konzern konzentrie­rt sich auf Wachstum – auch in Geschäftsf­eldern, die über das klassische Energieges­chäft hinausgehe­n, in der Breitbandv­ersorgung oder in der Elektromob­ilität. Mit diesem breiteren Ansatz will die EnBW bis 2025 ein Ergebnis von „mindestens drei Milliarden Euro erzielen“.

Ein Video von der Sprengung der Kühltürme in Philippsbu­rg unter www.schwäbisch­e.de/enbw

 ?? FOTO: DANIEL MAURER/ENBW ?? Sprengung der Kühltürme des Kernkraftw­erks Philippsbu­rg: Nach vierjährig­er Planung sackten die beiden Türme am 14. Mai 2020 binnen weniger Sekunden in einen Schuttberg aus jeweils 65 000 Tonnen Stahlbeton zusammen. Wegen der Corona-Pandemie und möglicher Menschenan­sammlungen musste der Termin geheim gehalten werden. Immerhin 1200 Bürgerinne­n und Bürger holten sich im Anschluss an die Sprengung Bruchstück­e der Kühltürme als Andenken an das Kapitel Atomkraft ab.
FOTO: DANIEL MAURER/ENBW Sprengung der Kühltürme des Kernkraftw­erks Philippsbu­rg: Nach vierjährig­er Planung sackten die beiden Türme am 14. Mai 2020 binnen weniger Sekunden in einen Schuttberg aus jeweils 65 000 Tonnen Stahlbeton zusammen. Wegen der Corona-Pandemie und möglicher Menschenan­sammlungen musste der Termin geheim gehalten werden. Immerhin 1200 Bürgerinne­n und Bürger holten sich im Anschluss an die Sprengung Bruchstück­e der Kühltürme als Andenken an das Kapitel Atomkraft ab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany