Strahlende Verwandlung
Wie der baden-württembergische Energieversorger EnBW sein Erbe aus der Atomkraftära regelt
KARLSRUHE/RAVENSBURG - Es ist 7:35 Uhr in der Konzernzentrale der Energie Baden-Württemberg (EnBW) in der Durlacher Allee in Karlsruhe als die Katastrophe beginnt. Zu diesem Zeitpunkt treffen knapp 10 000 Kilometer entfernt bis zu 15 Meter hohe Flutwellen auf die japanische Ostküste und überspülen die Reaktorblöcke des drittgrößten Kernkraftwerks des Landes Fukushima-Daiichi. Wenige Minuten zuvor hatte unter dem Meer der Boden gebebt. Der Wassereinbruch führt zu einem Ausfall der Stromversorgung, die Kühlung versagt, und es kommt zum Super-Gau: In drei von sechs Kernreaktoren setzt die Kernschmelze ein und hoch radioaktives Material gelangt in großen Mengen in die Umwelt.
„Mit dem Unglück in Fukushima war mir klar, dass sich die Kernenergie in Deutschland ein für allemal erledigt hat“, erinnert sich Jörg Michels, Geschäftsführer der Kernkraftsparte der EnBW an den einschneidenden Moment am 11. März vor zehn Jahren zurück. Und Michels sollte recht behalten. Nur drei Tage später gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekannt, dass alle 17 deutschen Kernkraftwerke für drei Monate einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden sollen. Kurz darauf fällt die Entscheidung, die ältesten Meiler vorerst abzuschalten. Auch zwei Anlagen der EnBW sind darunter. Am 30. Juni wird der Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft besiegelt. Bis Ende 2022 müssen alle Kernkraftwerke vom Netz.
Der EnBW, nach RWE und E.ON drittgrößter Energieversorger Deutschlands, wird damit – quasi von heute auf morgen – für rund ein Drittel seiner Erzeugungskapazitäten die Grundlage entzogen. Den Konzern trifft das völlig unvorbereitet. Erst wenige Monate zuvor, im Oktober 2010, hatte die Bundesregierung die Restlaufzeiten der deutschen Kernkraftwerke verlängert. Alle Planungen und Arbeiten im Kraftwerkspark der EnBW sind darauf ausgerichtet. Zum damaligen Zeitpunkt produziert die EnBW in den vier Anlagen Neckarwestheim 1 und 2 sowie Phillipsburg 1 und 2 rund 35 Milliarden Kilowattstunden Atomstrom pro Jahr. Das entspricht rund der Hälfte des Bedarfs in ganz Baden-Württemberg.
Der behäbige Konzern zeigt eine erstaunlich schnelle Reaktion: Bereits im April 2011 beginnt das Management, eine Rückbaustrategie für seine vier Kernkraftwerke zu erarbeiten. Die Anlage am Standort Obrigheim ist zu diesem Zeitpunkt bereits stillgelegt. Wenig später geht das Unternehmen eine Neuausrichtung des Geschäfts hin zu erneuerbaren Energien an. Für die Konzernführung damals eine heikle Situation, denn den Rückbau der Kernkraftwerke sollen die 1800 Mitarbeiter der Sparte selbst übernehmen. Kann das gut gehen, die eigene Belegschaft mit dem Abbau ihrer Arbeitsplätze zu beauftragen?
Nach rund zehn Jahren Erfahrung kommt Jörg Michels zu einem klaren Urteil: Ja. Es habe sich als Erfolgsfaktor
erwiesen, auf das eigene, erfahrene Personal zu setzen. Heute sei die EnBW unter den Kernkraftwerksbetreibern in Deutschland bei vielen Rückbauthemen Pionier und Vorreiter: Angefangen von der Erstellung der hochkomplexen Konzepte für die Abbaugenehmigungen, über den ersten Castortransport auf einem Binnengewässer bis hin zum Sprengabbruch der Kühltürme des Kernkraftwerks Philippsburg. Inzwischen sind alle Kernkraftwerke des Konzerns im Rückbauprozess, für vier der fünf Anlagen ist das Abbauprogramm bereits vollumfänglich genehmigt. Parallel dazu haben sich die noch 1500 Mitarbeiter der Kernkraftwerkssparte zu Projektprofis gemausert – Know-how, das der Konzern künftig gewinnbringend nutzen will.
Auf absehbare Zeit hat die Belegschaft der Sparte aber im eigenen Haus zu tun. Michels zufolge ist die EnBW bis Mitte der 2030er-Jahre mit dem Rückbau seiner fünf Kernkraftwerke beschäftigt. Für eine Anlage kalkuliert der Konzern mit einem Zeitraum von zehn bis 15 Jahren. „Der Rückbau von Atomkraftwerken ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, bringt es Michels auf den Punkt und erneuert das vor einigen Jahren gegebene Versprechen des Unternehmens, das alles „innerhalb einer Generation zu verwirklichen“.
Am weitesten fortgeschritten ist das Unternehmen mit dem Kernkraftwerk Obrigheim, das als Pilotanlage innerhalb des Konzerns fungiert, und dessen Rückbau bis Mitte der 2020er-Jahre abgeschlossen sein soll. Die Herausforderungen dabei sind enorm. Das fängt damit an, dass es sich in Teilen um radioaktives Material handelt, das eine besondere Vorgehensweise verlangt. Der Reaktordruckbehälter und seine Einbauten etwa mussten wegen der Strahlenbelastung geflutet und unter Wasser demontiert werden. Dann ist da die schiere Masse der Komponenten. Allein der Generatorständer hat ein Gewicht von 440 Tonnen. Er wurde per Schiff über den Neckar abtransportiert. In Summe kommen für das Kernkraftwerk Obrigheim 275 000 Tonnen Material zusammen, das einzeln kategorisiert, auf Radioaktivität gemessen und weiterverarbeitet wird. „Mülltrennung in sehr viel größerem Maßstab“, nennt das Michels.
Für die Weiterverarbeitung hat die EnBW deshalb an jedem Standort ein eigenes Reststoffbearbeitungszentrum hochgezogen, in dem die Materialien, sofern sie nur oberflächlich strahlen, dekontaminiert, mechanisch oder thermisch verwertet und im Anschluss, wenn möglich, dem Wertstoffkreislauf zugeführt werden. Letzteres trifft laut EnBW für 96 bis 98 Prozent der anfallenden konventionellen Rest- und Abfallstoffe zu. Ein bis drei Prozent dieser Materialien kommen auf Mülldeponien in der näheren Umgebung. Zirka ein Prozent der Gesamtmasse – im Fall des Kernkraftwerks Obrigheim also rund 2750 Tonnen – ist radioaktiver Abfall, der im Schacht Konrad, einem stillgelegten Eisenerzbergwerk im Stadtgebiet Salzgitter, eingelagert wird.
Für die Finanzierung des Rückbaus, die Konditionierung und Verpackung des radioaktiven Mülls veranschlagt die EnBW 7,5 Milliarden Euro. Diese Summe hat der Konzern während der Laufzeit der Kernkraftwerke sukzessive zurücklegen müssen. Für die Zwischen- und Endlagerung, die mit dem Atomausstieg in die Verantwortung des Bundes übergegangen ist, hat das Unternehmen im Juli 2017 weitere 4,7 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtlichen Atommüllfonds eingezahlt, der sich um die Endlagerung kümmert. Damit hat die EnBW zumindest finanziell einen Schlussstrich unter das Atomzeitalter gezogen. Der Rückbau als letztes Kapitel der Kernkraftnutzung geht dagegen erst in die heiße Phase.
Jörg Michels, der seit 1995 in der Kernkraftwerkssparte des Energieversorgers arbeitet, blickt dem absehbaren Ende ohne Wehmut entgegen. Kernenergie sei in Deutschland schon immer kontrovers diskutiert worden, sagt der Manager. Und für den Atomausstieg gebe es einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens. Das müsse man akzeptieren. Ohnehin überwiegt für Michels das Positive – sowohl persönlich als auch geschäftlich: „Die vergangenen Jahre waren die spannendsten und interessantesten in meinem ganzen Berufsleben. Wir haben das Unternehmen komplett umgekrempelt und ernten nun die Früchte dieses Umbaus.“
Das hat viel mit dem Chef des Konzerns zu tun, mit Frank Mastiaux. Der gebürtige Essener kam 2012 als Vorstandsvorsitzender zur EnBW. Seitdem versucht er, das einst stark atomund kohlestromlastige Unternehmen, das jeweils zu 46,75 Prozent dem Land
Baden-Württemberg und dem Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW) gehört, ein Zusammenschluss von neun Landkreisen im südlichen Baden-Württemberg, in einen Ökostromkonzern zu wandeln. Dass für die Energiekonzerne mit dem Trauma von Fukushima eine neue Zeitrechnung anbricht, dass alte Geschäftsmodelle nicht mehr taugen, hat er früher akzeptiert als andere. „Es gab nicht wenige in unserer Branche, die noch 2010 erneuerbare Energien als Spuk abtaten, der spätestens in vier Jahren vorüber sei“, sagte der EnBW-Chef vor einigen Jahren, als der Konzern inmitten eines überlebensnotwendigen Transformationsprozesses steckte, dessen Ausgang offen war. Das ist er heute nicht mehr.
Mastiaux war 2013 mit dem Ziel angetreten, das damalige operative Ergebnis von 2,4 Milliarden Euro nach sieben Jahren mit einem völlig anderen, nämlich komplett auf Energiewende ausgerichteten Portfolio wieder zu erreichen. Das hat er schon 2019, ein Jahr vor der Zeit, geschafft. Jetzt ist die Umbauphase abgeschlossen. Der Konzern konzentriert sich auf Wachstum – auch in Geschäftsfeldern, die über das klassische Energiegeschäft hinausgehen, in der Breitbandversorgung oder in der Elektromobilität. Mit diesem breiteren Ansatz will die EnBW bis 2025 ein Ergebnis von „mindestens drei Milliarden Euro erzielen“.
Ein Video von der Sprengung der Kühltürme in Philippsburg unter www.schwäbische.de/enbw