Ipf- und Jagst-Zeitung

Ein Sommer, nach dem alles anders war

Benedict Wells’ „Hard Land“ist ein berührende­r Roman über einen Außenseite­r

- Von Yuriko Wahl-Immel

Zart, romantisch, einfühlsam, aufwühlend. In einem kleinen Kaff im US-Bundesstaa­t Missouri spielen sich alle großen Themen des Lebens ab. „Hard Land“von Benedict Wells handelt von Freundscha­ft, Familie, Liebe, von Zweifeln, Ängsten, Tod und Verlust. Es geht ums Reifen, ums Erwachsenw­erden mit all seinen unbeschwer­ten wie auch schmerzhaf­ten Facetten. Mittendrin der verschloss­ene Außenseite­r Sam, kurz vor seinem 16. Geburtstag, der im Sommer 1985 in nur sechs Wochen ein anderer wird. Ein wunderbare­r Roman – unmöglich, sich von ihm nicht berühren zu lassen.

Benedict Wells, gerade erst 37 Jahre alt geworden, hat einmal gesagt, die Gefühle, die er in einem Buch beschreibe, seien echt, er habe sie tatsächlic­h selbst gefühlt. Zwar galt das damals seinem vierten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“, der in 37 Sprachen übersetzt und mit dem Literaturp­reis der Europäisch­en Union ausgezeich­net wurde. Doch was er 2016 im ZDF äußerte, dürfte genauso für seinen nun fünften Roman „Hard Land“gelten. Wie sonst könnte er Sätze schreiben wie: „Da bekam ich so viel Sehnsucht danach, ein anderer zu sein, dass es mich fast zerriss.“

Schon der erste Satz des Buches sitzt. „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“Sam ist einer, der in der Schulkanti­ne allein am Tisch sitzt, schmächtig, verloren, einsam. Zugleich mit musikalisc­hem Talent und scharfer Beobachtun­gsgabe ausgestatt­et. Er lebt in ständiger Angst um seine krebskrank­e, innig geliebte Mutter. Die ältere Schwester Jean ist längst weggezogen, zum Vater mit seinem „brütenden Schweigen“kommt er nicht durch. Ein antriebslo­s begonnener Ferienjob im Kino bringt eine Wende, führt ihn zu Kirstie, Cameron und Brand, die alle ein paar Jahre älter sind. Erst blitzt Sam bei ihnen ab, dann wächst Vertrauen. Und eine Verbundenh­eit, die oft ohne Worte auskommt. Auch die drei haben ihr Päckchen zu tragen, ringen mit Geheimniss­en, Verwundung­en, Schwächen, sind auf der Suche. Das macht sie empathisch, lässt sie einander verstehen.

Zu viert erleben sie glückliche Wochen, es kommt zu verrückten Mutproben, krassen Gespräche auf dem Kinodach, relaxten Szenen am See, wilden Partys im Rausch. Und in Kirstie – frech, forsch, mit anziehende­r kleiner Lücke zwischen den Vorderzähn­en – verliebt sich Sam. Hoffnungsl­os, chancenlos, wie es scheint. Mit 19 Jahren hat Wells seinen ersten Roman („Spinner“) geschriebe­n. Seine Schulzeit hatte er in Internaten und Heimen verbracht, ging danach nach Berlin, wollte sich unbedingt als Schriftste­ller austesten. Es funktionie­rte. Der junge Autor machte internatio­nal als Ausnahmeta­lent auf sich aufmerksam.

Und jetzt nimmt uns Wells auf eine Reise zurück in die Mitte der 1980er-Jahre mit, als es noch keine Handys gab, als Songs wie „Take on Me“von a-ha oder „Dancing with Myself“von Billy Idol angesagt waren.

Benedikt Wells’ erster Satz in „Hard Land“ Obwohl der Autor – bereits in München, Berlin, Barcelona und aktuell in Zürich zu Hause – 1985 selbst noch ein Baby war, wirkt alles authentisc­h.

Man taucht tief ein in diesen heißen Sommer. In bittere wie heitere Momente, beschriebe­n in einer Sprache, die all die widersprüc­hlichen Emotionen perfekt spiegelt. Grandios die Szene, in der Sam Abschied von seiner Mom nimmt und zugleich seinen Befreiungs­schlag erkämpft.

„Vor Aufregung habe ich letzte Nacht kaum geschlafen“, verrät Wells auf seiner Homepage – und meint damit den Tag Ende Februar (24. 2.), an dem sein Roman erschienen ist. Die Idee zum Buch sei ihm dreizehn Jahre zuvor auf seiner ersten Reise durch Amerika gekommen. Zur zweiten Romanhälft­e schreibt er, sie bedeute das „vielleicht größte Glück, das ich bisher beim Schreiben hatte“. Und: „Nie war ich näher an dem, was ich machen wollte, nie hatte ich stärker das Gefühl, dass ich so sehr die für mich richtigen Worte fand wie hier.“Und er hat sogar ein zauberhaft­es neu erfunden: „Euphanchol­ie“– für eine Stimmungsm­ischung aus Euphorie und Melancholi­e. (dpa)

„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Benedict Wells: Hard Land, Diogenes Verlag, 352 Seiten, 24 Euro.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Benedict Wells erzählt in seinem neuen Buch „Hard Land“bittersüß vom Erwachsenw­erden eines Jugendlich­en namens Sam.
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