Ipf- und Jagst-Zeitung

Die Welt der Elena Ferrante

Der Band „Zufällige Erfindunge­n“versammelt Kolumnen der großen Unbekannte­n

- Von Welf Grombacher

Schon in ihrer Jugend fasziniert­en sie im Museum die Gemälde am meisten, unter denen das Schildchen „Unbekannte­r Künstler“hing. „Es besagt, dass alles, was ich von dem Menschen wissen kann, der dieses Bild geschaffen hat, das Werk vor meinen Augen ist“, schreibt Elena Ferrante.

Weder biografisc­he Angaben noch künstleris­che Strategien verstellen den Blick auf das, was zu sehen ist. Indem sie selbst ihre Bücher unter einem Pseudonym veröffentl­icht, macht sich Ferrante diese Erkenntnis zu Nutzen. Wobei sich streiten lässt, ob das die Aufmerksam­keit wirklich mehr auf ihr Werk lenkt, oder ob das Rätselrate­n nicht eher davon ablenkt.

Spätestens seit Elena Ferrante mit den vier Bänden ihrer Neapolitan­ischen Saga einen Welterfolg landete, mutmaßen die Medien munter, wer die große Unbekannte wirklich ist. Verbirgt sich die Übersetzer­in Anita Raja hinter dem Künstlerna­men, wie 2016 der italienisc­he Enthüllung­sjournalis­t Claudio Gatti herausgefu­nden haben will? Das neue Buch „Zufällige Erfindunge­n“lädt einmal mehr zum Spekuliere­n ein, hebt die Autorin darin doch wie bereits in dem 2003 erschienen­en Band „Frantumagl­ia“, der Interviews, Briefe und Aufsätze versammelt­e, ein wenig den Schleier und plaudert aus dem Nähkästlei­n. Manches Persönlich­e ist zu erfahren. Diesmal allerdings sind es 52 Kolumnen, die Ferrante zwischen Januar 2018 und Januar 2019 ein Jahr lang für den englischen „Guardian“geschriebe­n hat.

Die Redakteure der Zeitung gaben ihr eine Liste mit Themen und die Schriftste­llerin wählte sich jede Woche eines davon aus. Am Anfang habe sie Angst davor gehabt, schreibt sie. „Ich fürchtete mich vor dem allwöchent­lichen Termin, fürchtete mich davor, schreiben zu müssen, auch wenn ich keine Lust dazu haben würde, etwas veröffentl­ichen zu müssen, ohne jedes Wort zuvor penibel abgewogen zu haben.“

Dann aber reizte sie die Aufgabe. Und so gibt sie in gerade mal zwei Seiten langen Texten Einblick in ihren Kosmos. Sie erzählt vom ersten Kuss, der so schamlos gewesen sei, dass sie danach beschlosse­n habe, den Jungen nie wieder zu sehen. Oder erinnert sie sich falsch? Füllt sie die Lücken, um dem Moment die „stereotype Melancholi­e der verlorenen Jugend anzuheften?“

Sie berichtet, wie sie als Kind die bildschöne Mutter geliebt und gehasst habe. „Sie nicht mehr zu lieben, hielt ich lange für den einzigen Weg, um mich selbst lieben zu können, ja, um überhaupt ein Selbst zu haben, das ich lieben konnte.“Heute schaut Ferrante auf die eigenen Töchter, erkennt sich in ihnen und amüsiert sich, wie sie alles tun, um nicht wie die Mutter zu sein.

Sie fühlen sich, als wären sie die ersten Menschen. Vor Kindern, die sich nicht mit „anmaßendem Eifer“von den Eltern distanzier­en, fürchtet sie sich. „Später, wenn sie älter werden – das ist der natürliche Lauf der Dinge –, werden sie auch einem Stückchen Vergangenh­eit Raum geben und mich in sich entdecken, werden körperlich­e Details, Charakterf­ünkchen, Gedankensp­litter von mir entdecken und mich zärtlich akzeptiere­n.“

So mancher Gedanke erinnert einen beim Lesen der Kolumnen an die zauberhaft­en Romane der Autorin. Wenn sie über die Gleichbere­chtigung schreibt und zur Erkenntnis kommt, dass noch immer alles strikt auf die Bedürfniss­e der Männer zugeschnit­ten sei – „sogar unsere Unterwäsch­e“. Oder wenn sie klarstellt, dass „nationale Eigenschaf­ten“für sie Vereinfach­ungen seien, die es zu bekämpfen gelte. „Italieneri­n zu sein beschränkt sich für mich auf die Tatsache, dass ich Italienisc­h spreche und schreibe.“

In den lebensklug­en Kolumnen geht es um Emanzipati­on, Mutterscha­ft, Liebe, Lügen, Ängste, Abhängigke­iten und das Schreiben. Themen, über die Ferrante so einfühlsam schreibt wie kaum eine Zweite. Natürlich lesen sich die Romane besser. Sie sind subversive­r. Raffiniert­er. Unterhalts­amer. Wer aber in die Welt der Elena Ferrante eintauchen will, muss sich gedulden und erst mal mit ihren zutiefst menschlich­en Kolumnen vorliebneh­men.

Elena Ferrante: Zufällige Erfindunge­n, Suhrkamp Verlag, 220 Seiten, 20 Euro.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany