Die SPD in der Identitätskrise
Die Sozialdemokraten streiten über den Umgang mit Minderheiten und das Gendersternchen – Basis wehrt sich gegen Denkverbote
BERLIN - Den Namen Florian Post muss man in Tuttlingen oder Ravensburg nicht kennen. Der 39-jährige Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis München-Nord hat bislang wenig getan, was ihn bundesweit bekannt gemacht hätte. Vor zwei Tagen hat sich diese Sichtweise ein klein wenig verändert. Den Oberbayern packte dermaßen der Zorn, dass er in einem Interview zum Schlag gegen die „Bonsai-Jakobiner“in seiner Partei ausholte, die ihm selbst das Anzugtragen verübeln würden. „Alles soll in der Partei auf links gebürstet werden, und wer da nicht mitmacht, wird abgestraft“, sagte er der Zeitschrift „Cicero“. In der „Schwäbischen Zeitung“legte er noch einmal nach: „Das ist quasi die Gesinnungspolizei. Die Bonsai-Jakobiner meinen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.“Seine Breitseite zielt in Richtung der Parteivorsitzenden Saskia Esken und deren Stellvertreter Kevin Kühnert.
Was den Bayern so zur Weißglut gebracht hat, ist eine Melange aus persönlicher Niederlage und politischer Enttäuschung. Post verlor am vergangenen Wochenende eine Kampfkandidatur um den ersten Listenplatz in Oberbayern gegen einen Gewerkschafter und hat nun kaum mehr Chancen auf eine Wiederwahl ins Parlament. Für diesen Misserfolg macht er genau jene Parteikreise verantwortlich, die im Streit um die sogenannte Identitätspolitik und geschlechtergerechte Sprache vor Kurzem auf den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, losgegangen sind, allen voran Esken und Kühnert. „Jetzt wird behauptet, ich sei der dumme Querulant, der nur beleidigt sei wegen des Listenplatzes“, sagt Post.
In der SPD-internen Debatte ist die politische Karriere des Abgeordneten aus Bayern tatsächlich nur eine Randnotiz. Vielmehr streiten die Sozialdemokraten über die Frage, wie
Menschen in Deutschland schreiben und sprechen sollen, um niemanden zu diskriminieren, und wie viel Rücksicht die Mitglieder der Mehrheit einer Gesellschaft auf Minderheiten nehmen müssen, um beispielsweise nicht als rassistisch oder schwulenund lesbenfeindlich zu gelten.
Thierse hatte das Ganze mit einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ins Rollen gebracht, dem er, als die Aufregung schon groß war, ein Interview im Deutschlandfunk folgen ließ. Darin kritisierte er eine „Identitätspolitik von links“– mit der Begründung, dass es, etwas vereinfacht formuliert, nicht das oberste Ziel einer Gesellschaft sein könne, möglichst jeder Befindlichkeit und Verschiedenheit gerecht zu werden. Denn damit sei die Gefahr verbunden, die Ansprüche der Mehrheiten als „konservativ oder reaktionär oder gar rassistisch“herabzuwürdigen. Auch über Verbote und Vorgaben beim geschlechtsneutralen Schreiben und zur Umbenennung von Straßennamen
wie „Mohrenstraße“hatte sich der 77-Jährige kritisch geäußert.
Der frühere Bundestagspräsident erlebte daraufhin etwas, das man neudeutsch einen „Shitstorm“nennt. So wurde ihm in E-Mails vorgeworfen, „schwulenfeindliche, faschistoide Dreckssch…“verbreitet zu haben, wie die Zeitschrift „Spiegel“berichtete. Auch Esken und Kühnert zeigten sich „beschämt“über seine Worte, woraufhin Thierse in einem weiteren Schritt seinen Austritt aus der Partei anbot. Inzwischen ist klar: Thierse wird Sozialdemokrat bleiben.
Esken äußert sich nicht mehr zu dieser Debatte. Von der Parteichefin werde es kein aktuelles Statement dazu geben, hieß es am Donnerstag aus der Parteizentrale. Doch die Frage, ob es bei der SPD Denk- und Sprechverbote gibt, steht weiterhin im Raum. Zudem bezweifeln Parteimitglieder, dass sich eine progressive Haltung der Parteispitze in der Gender- und Minderheitenpolitik am Wahltag auch in Wählerstimmen umwandelt.
Zweifel am Liberalismus der Linken in diesen gesellschaftlichen Fragen hatte in der vergangenen Woche auch eine Politikerin geäußert, die eigentlich noch links der SPD steht. „Das ist ein typisches Vorgehen des linksliberalen Milieus: Wer für eine Begrenzung von Zuwanderung ist, ist ein Rassist. Wer CO2-Steuern kritisiert, ein Klimaleugner. Und wer die Schließung von Schulen, Restaurants und Fitnessstudios nicht für richtig hält, ein ,Covidiot‘“, sagte die frühere Linken-Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, in einem Interview in der Zeitung „Die Welt“. Ihre provokante Forderung: Der Linksliberalismus sollte „wegen seiner ausgeprägten Intoleranz eigentlich ,Linksilliberalismus‘“heißen.
Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, der ebenfalls öffentlich unterstellt wurde, die Probleme von Schwulen und Lesben nicht ernst zu nehmen, versucht über den goldenen Mittelweg eine gewisse Unaufgeregtheit in diese Debatte einzuspeisen. „Die
Welt und die Sprache, die kann man nicht nach dem Reißbrett einfach machen“, sagte sie in einem Interview im Deutschlandfunk. Es gebe zwar Diskriminierung in der Sprache, aber das bedeute nicht, „dass wir deswegen eine Durchsystematisierung brauchen von allem“. Ganz pragmatisch vertritt sie die Auffassung: Die Gesellschaft ist kompliziert – und darauf müsse man eben Rücksicht nehmen. Und das sei eine Aufgabe nicht nur für die SPD, sondern für die ganze Gesellschaft.
Für SPD-Mitglieder an der Basis wie Florian Post zeigt diese Debatte unterm Strich vor allem aber auch eines: Wie weit die Parteispitze von den eigentlichen Problemen der sozialdemokratischen Wählerklientel entfernt ist. „Für solche Themen braucht es die SPD nicht“, sagt der 39-Jährige aus München. „Wenn das unsere prioritären Themen sind, dann erklärt sich für mich, warum in Umfragen die SPD in Bayern gerade einmal auf sieben Prozent und in Baden-Württemberg auf zehn Prozent kommt.“
In dem SPD-internen Streit spielt das Wort „Identitätspolitik“eine entscheidende Rolle. Doch was soll das sein? Im Kern geht es um die Ausrichtung politischen Handelns an den Bedürfnissen von Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ethnischen Zugehörigkeit zu einer Gruppe zusammengefasst werden können. Solche Gruppen können schwul-lesbische Bewegungen oder Organisationen gegen Rassismus sein. Auch die Frauenbewegung kann als Teil einer identitätspolitischen Bewegung betrachtet werden. Was die verschiedenen Gruppen eint: Es geht ihnen darum, gefühlte oder tatsächlich vorhandene Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu überwinden, indem sie mehr Rechte für sich einfordern. Dieses Ziel birgt natürlich politischen Sprengstoff, wie die aktuelle Debatte zeigt.
Ein Beispiel dafür ist auch das Gendersternchen, das seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch ist. Auch in Nachrichtensendungen, so etwa im „Heute Journal“, wird inzwischen von „Politiker*innen“gesprochen – mit einer kurzen Pause dazwischen. Für die Zuschauer mag dies seltsam klingen, doch so richtig falsch ist die Schreib- und somit auch Sprechweise nicht. Im Deutschen sei nur die Rechtschreibung für Schulen und Behörden normiert, sagt Annette Trabold vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Den Genderstern hat der Rat für deutsche Rechtschreibung 2018 erst einmal auf Beobachtung gestellt, im kommenden Jahr soll entschieden werden, wie er weiter behandelt wird. Ob sich der eingeklemmte Stern durchsetzen wird als Zeichen geschlechtergerechten Schreibens, ist eine offene Frage. „Darüber entscheidet die Gesellschaft und keine Regierung“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. (clak)