Erdogan bittet die Türken um ihr Erspartes
Eindringlicher Appell des Präsidenten beim Kongress der Regierungspartei AKP – Opposition kritisiert Konzeptlosigkeit
ISTANBUL - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mit einer umstrittenen Personalentscheidung gerade einen Absturz der Landeswährung und der Börsenkurse verursacht – jetzt bittet er die Türken um Geld, um die Wirtschaft wieder flottzumachen. Die Bürger sollten ihre Ersparnisse in harter Währung und Gold nicht zu Hause horten, sondern auf die Bank bringen, sagte Erdogan am Mittwoch beim Parteitag seiner Regierungspartei AKP in Ankara.
Die Türken haben Ersparnisse von mehr als 230 Milliarden Dollar in Dollar, Euro und Gold umgewandelt, um sie vor der Entwertung der Lira in Sicherheit zu bringen. Dass sie ihr Vermögen jetzt zur Bank tragen, ist nicht zu erwarten. Erdogans Appell offenbarte nach Ansicht von Oppositionsmedien die Konzeptlosigkeit einer Regierungspartei im Abwärtstrend, der spätestens in zwei Jahren Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bevorstehen.
Erdogan hatte am Wochenende die Finanzmärkte in Aufruhr versetzt, indem er Zentralbankchef Naci Agbal wegen einer Zinserhöhung feuerte und durch einen regierungstreuen Banker ersetzte. Seitdem hat die Lira rund acht Prozent an Wert verloren, die Börsenkurse in Istanbul rauschten nach unten. Beim Parteitag lobte Erdogan seine Wirtschaftspolitik und sagte, nun sei es Zeit, „Gas zu geben“. Die Turbulenzen der vergangenen Tage spielte er herunter.
Mit dem Parteitagsmotto „Vertrauen und Stabilität“wollte Erdogan die AKP auf den kommenden Wahlkampf einstellen. Nach Ansicht einiger Experten könnte der 67-jährige Präsident trotz schlechter Umfragewerte vorzeitige Neuwahlen ausrufen: Die regierungstreue Justiz hat ein Verbotsverfahren gegen die Kurdenpartei HDP eingeleitet, die drittstärkste politische Kraft mit sechs Millionen Wählern. Damit steigt der Druck auf die Opposition.
Im außenpolitischen Teil seiner Rede erneuerte Erdogan das Versprechen, die Türkei werde nach einer Phase der internationalen Isolation wieder mehr Freunde gewinnen und die Weltregion zu einer „Insel der Ruhe“machen. Ähnliche Versprechen
hatte Erdogan bereits im November gemacht. Zuletzt bemühte er sich um einen Neuanfang in den Beziehungen zu Ägypten. Bisher haben sich daraus jedoch keine konkreten Veränderungen ergeben. Beim Parteitag grüßte Erdogan seine Anhänger erneut mit dem sogenannten Rabia-Handzeichen, einem Ausdruck des Protests gegen den ägyptischen Staatschef Abdel Fattah alSisi.
Auch im schwierigen Verhältnis zu den USA zeichnet sich keine Besserung ab. Erdogans Außenminister
Mevlüt Cavusoglu traf sich am Rande der NATO-Außenministertagung in Brüssel am Mittwoch mit seinem neuen amerikanischen Kollegen Antony Blinken. Dieser rief die Türkei auf, das russische Flugabwehrsystem S-400 wieder aus den Arsenalen zu entfernen. Die USA und Europa werfen der Türkei vor, mit dem russischen System die Luftverteidigung der NATO zu schwächen und Russland die Möglichkeit zu geben, westliche Waffen wie den neuen USKampfjet F-35 auszuspionieren.
Cavusoglu wies Blinkens Forderung jedoch zurück. Der Kauf der S-400 sei abgeschlossen, sagte der türkische Minister nach dem Treffen mit Blinken. Damit ist eine türkischamerikanische Annäherung bis auf Weiteres ausgeschlossen, denn nach Aussagen von US-Regierungsvertretern ist eine Verständigung mit der Türkei unmöglich, solange der Nato-Partner die russischen Raketen behält.
Blinken kritisierte zudem den Austritt der Türkei aus dem Frauenrechtsabkommen des Europarats, den Erdogan ebenfalls am Wochenende verkündet hatte. Der Präsident will damit nationalistische und islamistische Wähler für sich gewinnen. In seiner Parteitagsrede beklagte Erdogan, dass die Türken immer später heiraten und immer weniger Kinder bekommen. Regierungsgegner machen dafür allerdings die schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich, die es vielen Bürgern nicht erlaubt, einen eigenen Hausstand zu gründen. Die Jugendarbeitslosigkeit in der Türkei liegt nach offiziellen Angaben bei 25 Prozent.
Die regierungskritische Zeitung „BirGün“bilanzierte in ihrer Onlineausgabe, Erdogan habe vor dem Parteitag ein Manifest für die kommenden Jahre angekündigt, in seiner Rede aber keine neuen Projekte präsentiert. Auch wegen der Missachtung von Corona-Auflagen bei dem Kongress in einer Sporthalle in Ankara gab es Kritik. Obwohl die Türkei täglich mehr als 25 000 Neuinfektionen verzeichnet und Massenveranstaltungen verboten sind, drängten sich Tausende Delegierte in der Halle und viele Zuschauer vor den Toren. In den vergangenen Wochen hatten Provinzparteitage der AKP in mehreren Landesteilen die örtlichen Infektionszahlen in die Höhe getrieben. Weil die Regierungspartei die Gesundheitsbehörden und die Justiz kontrolliert, hat sie trotz der Verstöße keine Konsequenzen zu befürchten.