Kinderrechte im Grundgesetz – muss das sein?
Nach Jahren der Debatte hat sich die Große Koalition auf einen Gesetzentwurf geeinigt – Doch die Kritik daran ist groß
BERLIN - Müssen Eltern künftig befürchten, von ihren Kindern verklagt zu werden, wenn sie ihnen keine uneingeschränkte Handynutzung zugestehen? Und müssen Städte und Gemeinden künftig die Ampelknöpfe in einer Höhe anbringen, dass auch Dreijährige sie problemlos erreichen? Mit Sicherheit nicht. Denn beides wäre dem Schutz von Kindern nicht zuträglich. Mit dem Vorhaben der Großen Koalition, Kinderrechte in der Verfassung festzuschreiben, soll etwas anderes erreicht werden: „Im Kern unserer Überlegungen steht der Satz ,Kinder sind keine kleinen Erwachsenen‘“, sagt Katja Mast, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und Abgeordnete für den Wahlkreis Pforzheim. Daraus ergebe sich ein ganz neues Bewusstsein für die Bedürfnisse von Kindern. Doch der Gesetzentwurf, den Union und SPD vorgelegt haben und der am Freitag im Bundesrat behandelt wurde, ist umstritten. Im Folgenden die wichtigsten Fragen dazu.
Wie ist die Rechtslage von Kindern heute?
Natürlich ist es nicht so, dass Kinder in Deutschland heutzutage keine Rechte hätten. Das räumen auch die Befürworter einer Grundgesetzänderung ein. Kinder sind wie alle anderen Menschen Träger der Grundrechte, die in den ersten 19 Artikeln der Verfassung festgeschrieben sind. Das Bundesverfassungsgericht wies mehrfach darauf hin, dass Kinder „nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, sondern Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“sind. Darüber hinaus verpflichten Gesetze zum Schutz von Kindern und Jugendlichen: so etwa das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch und das am Donnerstag vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Auch in Landesverfassungen wie in Baden-Württemberg und Bayern sind die Rechte und der Schutz von Kindern und Jugendlichen explizit erwähnt. Darüber hinaus gibt es noch internationale Vereinbarungen zum Schutz von Kindern wie die UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 1992 ratifiziert hat, und den Artikel 24 der europäischen Grundrechtecharta, in dem ebenfalls die Rechte von Kindern geregelt sind.
Weshalb dringen Kinderschutzverbände und Politiker dennoch darauf, Kinderrechte auch noch in der Verfassung zu verankern?
Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: In erster Linie geht es den Befürwortern einer Verfassungsänderung um einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft, um mehr Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von Kindern. „Die Covid-19-Krise zeigt sehr deutlich, dass die Belange von Kindern und Familien in Deutschland zu häufig durchs Raster fallen“, teilte Sebastian Sedlmayer, Leiter der Politik-Abteilung von Unicef Deutschland, mit. Katja Mast setzt auf eine Stärkung der Familien durch die geplante Grundgesetzänderung: „Weil die Belange von Kindern stärker ins Bewusstsein rücken.“Die SPD-Politikerin, selbst Pflegemutter von zwei Kindern, verspricht sich zudem auch ganz konkrete Vorteile für Kinder. „Beim Missbrauchsfall in Staufen wurde beispielsweise das Kind vom Gericht nicht gehört. Stünden Kinderrechte im Grundgesetz, wäre man mit großer Sicherheit nicht so leichtfertig damit umgegangen.“Der Kinderschutzbund hofft beispielsweise auf eine stärkere Beteiligung von Kindern in Schulen und Kitas, bei der Verkehrsplanung – und in der Corona-Pandemie. „Das Recht auf Gewerbefreiheit hat Verfassungsrang, das Recht der Kinder auf Förderung nicht“, kritisiert Juliane Wlodarczak, Sprecherin des Deutschen Kinderschutzbundes, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Dass sich die Verfassungsänderung in der Praxis konkret auswirken würde, ist aber nicht gesagt. Das ist vielmehr die Hoffnung der Verbände.
Warum hat es Jahre gedauert, bis die Große Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt hat?
Union und SPD hatten zwar bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Doch bis sie sich auf eine entsprechende Formulierung geeinigt hatten, gingen Jahre ins Land. Vor allem CDU/CSU war daran gelegen, auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, die Rechte von Eltern schmälern zu wollen. Das rechtliche Verhältnis von Eltern, Kindern und dem Staat ist nicht unkompliziert. Im Normalfall entscheiden die Eltern darüber, was gut für ihre Kinder ist. Aber wenn das Kinderwohl gefährdet ist, muss der Staat eingreifen. Im
Gesetzentwurf der Großen Koalition heißt es nun: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) sagt dazu, sein Ziel sei gewesen, „dass das sorgfältig austarierte Dreiecksverhältnis von Eltern, Kindern und Staat nicht, insbesondere auch nicht zulasten der Eltern, verschoben wird“. Dem trage der Entwurf der Regierungskoalition Rechnung.
Wie sind die Reaktionen auf diesen Regierungsentwurf ?
Verheerend. Mehr als 100 Organisationen aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Medizin und Pädagogik kritisierten vor der Bundesratsdebatte am Freitag, dass der Entwurf der Bundesregierung faktisch hinter die EU-Grundrechtecharta, die UN-Kinderrechtskonvention und die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückfalle. „So, wie der Gesetzentwurf vorliegt, ist er nicht mehr als Symbolpolitik und hätte – wenn überhaupt – bloßen deklaratorischen Charakter“, teilt Juliane Wlodarczak, Sprecherin des Kinderschutzbundes, mit. In ihrem Appell „Kinderrechte ins Grundgesetz – aber richtig!“fordern die Organisationen unter anderem, dass Kinderrechte „vorrangig“berücksichtigt werden müssten – und nicht nur „angemessen“, wie es in dem jetzigen Entwurf heißt. Auch den Grünen im Bundestag geht der Entwurf nicht weit genug. Wie die Kinderschutzverbände fordern auch sie, die Kinderrechte im Grundgesetz in einem eigenen Absatz zu formulieren und sie nicht mit Elternrechten zu verknüpfen.
Wie groß sind die Chancen, dass die Grundgesetzänderung tatsächlich kommt?
Im Bestfall 50 zu 50 schätzen Experten die Chance auf eine Realisierung des Projekts. Denn die rechtlichen Hürden für eine Änderung des Grundgesetzes sind hoch. Voraussetzung wäre eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Das heißt, die Große Koalition müsste auch die Opposition im Bundestag von ihrem Vorhaben überzeugen. Der Entwurf müsste also deutlich nachgebessert werden, um beispielsweise die Grünen und die Linken mit an Bord zu haben. Der Bundesrat verzichtete am Freitag wegen großer Differenzen in der Debatte des Entwurfs auf eine Stellungnahme und somit auf sein Recht, sich vor der ersten Bundestagsdebatte zu dem Regierungsentwurf zu äußern. Eine Entscheidung, wie sich Baden-Württemberg in der Länderkammer verhalten wird, ist nach Angaben von Regierungssprecher Rudi Hoogvliet noch nicht gefallen. Für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sei allerdings klar, „dass man sich bei solchen Fragen, bei denen es um Grundgesetzänderungen geht, nicht enthalten kann“.