Aalener übt in einem offenen Brief Kritik an Landrat
Kinder und Jugendliche zu Treibern der Pandemie zu machen, sei unfassbar – Sorgen der Eltern finden kein Gehör
AALEN - In Zeiten von Corona liegen bei vielen die Nerven blank. Eine große Herausforderung ist die Pandemie von Anfang an für Eltern gewesen. Nach über einem Jahr Homeschooling, Homeoffice und einer Rund-um-Betreuung für die Kinder sind sie mittlerweile mehr als verzweifelt, überfordert, ausgelaugt und mit ihrer Geduld am Ende. Dass dann noch Landrat Joachim Bläse die Kinder als Treiber der Pandemie bezeichnet, findet Norbert Schinko ungeheuerlich. In einem offenen Brief geht der 41-jährige Aalener mit dem Landrat scharf ins Gericht und wirft ihm auch vor, sein bereits im Januar vorgeschlagenes Schnelltestkonzept an den Bildungseinrichtungen im Ostalbkreis abgelehnt zu haben.
Das Homeschooling neben der Arbeit zu organisieren und sich selbst und seine Kinder psychisch über Wasser zu halten, sei kräftezehrend. Vor allem, weil kein Fünkchen Hoffnung bestehe, wann dieser Wahnsinn endlich mal ein Ende hat. „Ich sehe, wie die Kinder darunter leiden, nicht mehr jeden Tag unter Ihresgleichen zu sein, wie sie jeden sozialen Kontakt aufsaugen wie ein Schwamm.“Mit diesen Sätzen schildert eine Mutter ihre derzeitigen Gefühle. Sie ist eine von vielen, die eine E-Mail an die Familie Schinko geschickt haben und in kurzen Statements ihre momentanen Anliegen und Sorgen äußern. Auslöser für die persönlichen Worte sei die Aussage von Landrat Joachim Bläse gewesen, der in einer Pressemitteilung vom 1. April Kinder und Jugendliche für das erhöhte Infektionsgeschehen verantwortlich gemacht hat, sagt Norbert Schinko. Gemeinsam mit seinem offenen Brief hat er auch die anonymisierten Statements der Eltern dem Landrat zukommen lassen, um ihnen auf diese Weise Gehör zu verleihen. Denn ein solches würden sie weder lokalpolitisch noch in den Bildungseinrichtungen finden.
In ihren E-Mails schreiben die Eltern von den Problemen des Unterrichts im Homeschooling, denen vor allem berufstätige Eltern und Alleinerziehende nicht mehr gewachsen sind, von der fehlenden Motivation der Kinder und Jugendlichen, ihre Pläne zu Hause abzuarbeiten und von Veränderungen deren Persönlichkeit und Gemüts. Von einer Leichtigkeit und Unbeschwertheit sei nichts mehr zu spüren. Auch die Sorge der Eltern vor massiven Bildungslücken ist angesichts eines oft unqualifizierten Homeschoolings groß, in dessen Rahmen nur kopierte Blätter zu Hause ausgefüllt werden müssten. Klare Vorgaben, wie ein entsprechender Distanzunterricht auszusehen hat, gebe es nach wie vor nicht. Von den Eltern kritisiert wird auch die Maskenpflicht an den Schulen sowie das Prozedere ein Kind, das nur Schnupfen hat, von der Krippe auszuschließen oder bei einem Vorfall Kinder trotz negativem Test vorsorglich in häusliche Isolation zu schicken. Bei jedem Vorfall eine ganze Kita zu schließen, ziehe eine Dauerbetreungsproblematik nach sich, der vor allem Berufstätige nicht Rechnung tragen könnten. Und die Großeltern zu bitten, auf das Kind aufzupassen, wäre natürlich angesichts der Kontaktbeschränkung unverantwortlich, schreibt eine Mutter.
„Diese formulierten Sorgen und Ängste der Eltern sprechen eine deutliche Sprache“, sagt Norbert Schinko, der selbst zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren hat. In seinem offenen Brief an den Landrat äußert er sein Unverständnis über dessen „plumpe“Aussage, dass Kinder und Jugendliche die Inzidenzwerte in die Höhe schnellen lassen und als Superspreader im Kreis dargestellt werden. Denn dies sei nicht der Fall.
Der 41-Jährige, der als Professor für Maschinenbau an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Heidenheim unterrichtet, habe sich die Mühe gemacht und für den Monat März alle Infektionen an den Bildungseinrichtungen des Ostalbkreises addiert, die auf der Internetseite des Landratsamts gelistet sind und bei der sowohl Schüler und Kinder als auch Lehrer und Erzieher erfasst sind. Überdies habe er die Daten des Robert-Koch-Instituts für den Ostalbkreis zu Rate gezogen. Unterm
Strich sei dabei herausgekommen, dass Bildungseinrichtungen einen Anteil von 11,6 Prozent am Infektionsgeschehen im Ostalbkreis hätten, sagt Schinko, der die nicht neutrale Berichterstattung vonseiten des Landratsamts kritisiert. „Warum gibt es auf der Internetseite des Kreises im Gegensatz zu anderen Bereichen eine separate Seite, die ausschließlich dem Infektionsgeschehen an Bildungseinrichtung gewidmet ist?“, fragt sich der Aalener. Seiner Ansicht nach werde dadurch zwangsweise der Fokus auf die Bildungseinrichtungen gelegt und unter den Teppich gekehrt, dass ein Großteil des Infektionsgeschehens nicht in Bildungseinrichtungen,
sondern außerhalb stattfindet.
Im Kampf gegen Corona drängt Schinko auf einen Ausbau des schnellen Testens vor Ort mit einfachen Testkits wie Spucktests oder Pooltests. Dies habe er bereits am 19. Januar in einem Schreiben an Landrat Bläse gefordert. Sein Vorschlag sei allerdings von der zuständigen Dezernentin abgelehnt worden. Einhergehend mit dem Forcieren der Tests müssten für Schinko allerdings die Regularien zur Quarantäne und Isolation neu gestaltet werden. „Sinn und Zweck der engmaschigen Schnelltests ist es, okkult positive Kinder und Jugendliche zu identifizieren.“Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass dann ganze
„Mit ihren Sorgen werden Eltern alleingelassen und finden nirgends Gehör.“
im Kreis modellhaft erprobt worden. Im Kita-Bereich hätten sich überdies 54 Einrichtungen in Schwäbisch Gmünd an der Testung von Kindern beteiligt und es sei davon auszugehen, dass sich weitere Kommunen bei der freiwilligen Testung anschließen. Eine Testpflicht gebe es bislang allerdings nicht und könne vom Ostalbkreis auch nicht angeordnet werden.
Einrichtungen, Klassen oder Gruppen, wie aktuell gängig, 14 Tage in Quarantäne geschickt werden.
Schinkos Vorschlag wäre, dass ein Kind bei einem positiven Schnelltest zum PCR-Test muss, der übrige Bildungsbetrieb mit den per Schnelltest negativ getesteten Kindern indes allerdings weiterläuft. „Ist das ursprünglich per Schnelltest positiv identifizierte Kind positiv per PCR getestet, müssen alle Kinder bis zum zehnten Tag des potentiell letzten Erstkontakts in Quarantäne und können nach dem fünften Tag per negativem PCR-Test aus der Quarantäne vorzeitig entlassen werden.“
Anstatt sich im Ostalbkreis und speziell in Aalen trotz hoher Inzidenzen primär darum zu kümmern, in Anlehnung an Tübingen Modellstadt zu werden, sollten sich die Verantwortlichen lieber darum bemühen, das Öffnen der Bildungseinrichtungen weiter voranzubringen, sagt Schinko. Nur durch Präsenz könne das bereits entstandene Defizit an Bildung auf lange Sicht kompensiert werden. Sofern das überhaupt noch möglich ist.
Auf seine Kritik, die ausgegebene Schnupfen-Regelung in KitaEinrichtungen wieder außer Kraft zu setzen und Kinder bei einem simplen Nieser auszusortieren, hat die Stadt Aalen noch am Mittwochnachmittag reagiert. Mit einem negativen Test dürften auch Kinder bei einem Schnupfen an der Betreuung teilnehmen, freut sich Schinko über einen Teilerfolg.