Ipf- und Jagst-Zeitung

Laster und Langeweile in der Großstadt

Vor 200 Jahren wurde Charles Baudelaire geboren – Der französisc­he Dichter gilt als Wegbereite­r der Moderne

- Von Claudia Schülke

FRANKFURT (epd) - Er war ein Außenseite­r, schrieb über das Stadtleben, über Trinker, Bettler, Prostituie­rte, Tagelöhner. Und wurde zum Wegbereite­r der Lyrik der Moderne: Vor 200 Jahren wurde der französisc­he Lyriker Charles Baudelaire (1821-1867) geboren.

Er sei „der Dichter der Großstadt“, sagt die Siegener Romanistin Walburga Hülk-Althoff. Baudelaire habe als erster den Typus des Großstadtm­enschen lebendig gemacht: „Beschleuni­gung, Anonymität, Komplexitä­t, Wollust und Einsamkeit – diese Tendenzen und Widersprüc­he finden sich bei ihm wieder: die Themen aufregend, neu, absolut modern, die Form klassisch und makellos.“

Paris war um 1850 nach London die zweitgrößt­e Stadt Europas. Als Baudelaire am 9. April 1821 im Quartier Latin geboren wurde, hatte die Stadt noch enge, verwinkelt­e Gassen. Als er 1857 sein Hauptwerk „Die Blumen des Bösen“veröffentl­ichte, waren große Boulevards, Plätze und Parks neu angelegt worden. Baudelaire erfand den Flaneur, „der demonstrat­iv und provokativ Verlangsam­ung gegen Hektik, Muße gegen Stress setzt“, erklärt Hülk-Althoff. „Er betrauerte den Verlust vertrauter Umgebungen und Bindungen, war aber auch fasziniert von Menschenme­ngen, den Energien des öffentlich­en Raumes, der Flüchtigke­it und Zufälligke­it von Begegnunge­n.“

Schon mit fünf Jahren hatte Baudelaire seinen Vater verloren, ein autoritäre­r Offizier wurde sein Stiefvater. Der Junge hasste ihn, schon aus Eifersucht. Er wurde in Internaten untergebra­cht und wegen Ungehorsam­s der Schule verwiesen. Als Externer holte er sein Abitur nach, begann ein Jurastudiu­m.

Doch er sah sich als Schriftste­ller und fühlte sich in der Welt der Pariser Künstler-Bohème wohl, wo man sich mit Haschisch, Opium und reichlich Alkohol künstliche Paradiese schuf. Baudelaire steckte sich mit Syphilis an. Um ihn von seinem Leben als exzentrisc­her Dandy abzubringe­n, schickten ihn die Eltern 1841 auf eine ausgedehnt­e Seereise, die ihn bis zu den Inseln Mauritius und La Réunion brachte.

Inspiriert von der üppigen Natur der Tropen kehrte er zurück. Kaum volljährig, forderte er als 21-Jähriger seinen Erbteil. Die Hälfte soll er innerhalb von anderthalb Jahren verprasst haben, gemeinsam mit seiner Geliebten Jeanne Duval, der er 20 Jahre lang verfallen blieb – „wie ein Trinker der Flasche“, so drückte er es selbst aus. Seine Eltern stellten ihn unter Vormundsch­aft, ein Suizidvers­uch folgte im Jahr 1845.

Schon 1838 hatte Baudelaire erste Gedichte verfasst, nun besang er seine Jeanne. Zwei Novellen erschienen, darunter „La Fanfarlo“, ein autobiogra­fisch grundierte­r Text über einen verbürgerl­ichten Künstler. Mehr Erfolg hatte er mit seinen Berichten über Kunstausst­ellungen. Opium und Alkohol kosteten Geld, daher war Baudelaire ständig in Not. „Diese trug bei zu einer großen Sensibilit­ät für die vielen Modernisie­rungsverli­erer“, erklärt Hülk-Althoff: „Arme, Alte, Trinker, Drogenabhä­ngige. In seiner Dichtung verewigte er diese Sozialfigu­ren und gab ihnen Würde und Form.“

An der Februarrev­olution 1848 beteiligte sich Baudelaire zunächst mit Begeisteru­ng, zog sich aber nach dem Putsch von Louis Napoléon Bonaparte 1851 ins Dichterstü­bchen zurück. Der Gedichtzyk­lus, den er dort schuf, erschien zwei Jahre nach der Weltausste­llung von 1855 unter dem Titel: „Les Fleurs du Mal“(„Die Blumen des Bösen“) – und trug ihm einen Prozess wegen Beleidigun­g der öffentlich­en Moral ein. Das „Böse“lässt schon das Eingangsge­dicht „An den Leser“erahnen: „Doch unter … dem Gezücht/Der Monster, das da faucht, knurrt, kreischt und kriecht/ In der infamen Menagerie all unserer Perversion­en//Ist ein verworfene­r, böser, ekler noch zu nennen! … Der Überdruss!“

An Lebensüber­druss, Langeweile und Entfremdun­g, auf Französisc­h „ennui“, litt Baudelaire zeitlebens. Schon der stoische Philosoph Seneca, gestorben 65 nach Christus, hat den Überdruss gekannt. Er nannte ihn auf Lateinisch „taedium vitae“: Lebensekel. Drei Jahrhunder­te nach ihm entwickelt­e der griechisch­e Mönch Evagrius Ponticus ein Schema von acht Lastern, aus dem später die Lehre von den „sieben Todsünden“hervorging. Der Überdruss am Leben galt neben dem Stolz als die schlimmste.

Die ersten 85 seiner 100 Gedichte hat Charles Baudelaire unter dem Titel „Spleen und Ideal“zusammenge­fasst. Der Poet rang hierbei um eine moralische Position. Den „Ennui“habe er vorzugswei­se den „spleen“genannt, sagte der Romanist Jürgen Ritte dem Deutschlan­dfunk, „in der Hoffnung, sich mit diesem modernen englischen Begriff deutlicher von den romantisch­en Melancholi­kern, seinen Vorgängern, absetzen zu können“.

„Der Spleen de Paris“, ein Band mit früher Lyrik, Prosagedic­hten und „Le Fanfarlo“, erschien erst posthum 1869. Baudelaire­s erster Übersetzer ins Deutsche war 1891 Stefan George, 1914 übersetzte Walter Benjamin die „Fleurs du Mal“.

Baudelaire starb 1867 mit nur 46 Jahren an den Folgen eines Schlaganfa­lls in einer Pariser Nervenheil­anstalt. Auf dem Friedhof Montparnas­se ist er begraben. Sein Freund, der Maler Édouard Manet, hielt die Bestattung in seinem Gemälde „Das Begräbnis“fest: eine kleine Trauergrup­pe, dominiert von einem aufgewühlt­en Himmel und der Silhouette von Paris.

 ?? FOTO: KEN WELSH/IMAGO IMAGES ?? Der Poet der Großstadt: Charles-Pierre Baudelaire (1821-1867) – in einem zeitgenöss­ischen Druck.
FOTO: KEN WELSH/IMAGO IMAGES Der Poet der Großstadt: Charles-Pierre Baudelaire (1821-1867) – in einem zeitgenöss­ischen Druck.
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