Pulsschlag als Politikum
Putin-Gegner Nawalny soll Zwangsernährung drohen
MOSKAU - In Russland streitet die Öffentlichkeit darüber, wie krank oder gesund Alexej Nawalny wirklich ist. Jedenfalls kann er im Straflager kaum eine angemessene medizinische Behandlung erwarten.
Alexej Nawalnys Blutdruck beträgt 94/76, sein Durchschnittspuls 106 Schläge pro Minute. Laut seinem Twitter-Kanal wiegt er noch 77 Kilogramm. Acht Kilo verlor er seit Beginn seines Hungerstreiks am 31. März, 15 Kilo seit seinem Eintreffen in der Strafkolonie IK-2 in Pokrow Anfang des Monats.
Der Pulsschlag des für zweieinhalb Jahre inhaftierten Oppositionspolitiker ist ein Politikum. Russlands Öffentlichkeit streitet, wie krank oder gesund Nawalny wirklich ist. Er trat in den Hungerstreik, weil die Lagerleitung ihm ärztliche Hilfe verweigere. Er klagt über starke Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen in den Beinen. Das kremlnahe Portal Life veröffentlichte danach ein Video, auf dem ein Häftling, der wie Nawalny aussieht, mit einer Tasse Tee durch eine Baracke schlendert. Life bezeichnete den Oppositionellen als „dreisten Simulanten“. Kurz darauf kam Nawalny doch aufs Krankenrevier, mit Fieber und Husten. Jetzt ist er wieder gesundgeschrieben. Auf seinem Twitter-Account schreibt er, die Lagerverwaltung drohe ihm mit Zwangsernährung. Nawalny-Anhänger und Menschenrechtler verlangen, dass man wegen seiner Rücken- und Beinbeschwerden Fachärzte zu ihm lässt.
Eine Demonstration der oppositionellen „Allianz der Ärzte“mit der gleichen Forderung endete vergangenen Dienstag vor der Strafkolonie mit der Festnahme mehrerer Aktivisten und Journalisten.
Der aserbaidschanische Toxikologe Ismail Efendijew erklärte dem YouTube-Kanal Nawalnys, dessen Symptome könnten mit Problemen an der Wirbelsäule zusammenhängen. Aber auch mit Spätfolgen der Vergiftung durch den Nervenkampfstoff Nowitschok vergangenen August. Doch eine ärztliche Diagnose gibt es zumindets offiziell nicht.
Auch sein Status als weltbekannter politischer Gefangener scheint Nawalny nicht zu helfen. Vergangene Woche tauchte Maria Butina, als Mitglied des Gesellschaftsrates eigentlich Menschenrechtlerin, in Nawalnys Barracke auf.
Vor der Kamera des staatlichen Propagandakanals Russia Today hielt sie ihm vor, er putze den Boden unter seiner Pritsche nicht, andere Gefangene müssten diese Schmutzarbeit für ihn machen. Aber die Zeitung Nowaja Gaseta verweist auf Artikel 165 der Russischen Straflagerordnung, nach dem für das Säubern der Baracken bestimmte Häftlinge angestellt und bezahlt werden. Dass diese in der Praxis meist mit Rückendeckung der Lagerleitung Mitgefangene zum Schrubben zwingen, scheint für Butina nur recht und billig zu sein. „Der Auftritt dieser Dame hat demonstriert, was der Staat von den Häftlingen und ihren Rechten hält“, sagt der Regimekritiker Maxim Gromow.