Ipf- und Jagst-Zeitung

Pulsschlag als Politikum

Putin-Gegner Nawalny soll Zwangsernä­hrung drohen

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - In Russland streitet die Öffentlich­keit darüber, wie krank oder gesund Alexej Nawalny wirklich ist. Jedenfalls kann er im Straflager kaum eine angemessen­e medizinisc­he Behandlung erwarten.

Alexej Nawalnys Blutdruck beträgt 94/76, sein Durchschni­ttspuls 106 Schläge pro Minute. Laut seinem Twitter-Kanal wiegt er noch 77 Kilogramm. Acht Kilo verlor er seit Beginn seines Hungerstre­iks am 31. März, 15 Kilo seit seinem Eintreffen in der Strafkolon­ie IK-2 in Pokrow Anfang des Monats.

Der Pulsschlag des für zweieinhal­b Jahre inhaftiert­en Opposition­spolitiker ist ein Politikum. Russlands Öffentlich­keit streitet, wie krank oder gesund Nawalny wirklich ist. Er trat in den Hungerstre­ik, weil die Lagerleitu­ng ihm ärztliche Hilfe verweigere. Er klagt über starke Rückenschm­erzen und Lähmungser­scheinunge­n in den Beinen. Das kremlnahe Portal Life veröffentl­ichte danach ein Video, auf dem ein Häftling, der wie Nawalny aussieht, mit einer Tasse Tee durch eine Baracke schlendert. Life bezeichnet­e den Opposition­ellen als „dreisten Simulanten“. Kurz darauf kam Nawalny doch aufs Krankenrev­ier, mit Fieber und Husten. Jetzt ist er wieder gesundgesc­hrieben. Auf seinem Twitter-Account schreibt er, die Lagerverwa­ltung drohe ihm mit Zwangsernä­hrung. Nawalny-Anhänger und Menschenre­chtler verlangen, dass man wegen seiner Rücken- und Beinbeschw­erden Fachärzte zu ihm lässt.

Eine Demonstrat­ion der opposition­ellen „Allianz der Ärzte“mit der gleichen Forderung endete vergangene­n Dienstag vor der Strafkolon­ie mit der Festnahme mehrerer Aktivisten und Journalist­en.

Der aserbaidsc­hanische Toxikologe Ismail Efendijew erklärte dem YouTube-Kanal Nawalnys, dessen Symptome könnten mit Problemen an der Wirbelsäul­e zusammenhä­ngen. Aber auch mit Spätfolgen der Vergiftung durch den Nervenkamp­fstoff Nowitschok vergangene­n August. Doch eine ärztliche Diagnose gibt es zumindets offiziell nicht.

Auch sein Status als weltbekann­ter politische­r Gefangener scheint Nawalny nicht zu helfen. Vergangene Woche tauchte Maria Butina, als Mitglied des Gesellscha­ftsrates eigentlich Menschenre­chtlerin, in Nawalnys Barracke auf.

Vor der Kamera des staatliche­n Propaganda­kanals Russia Today hielt sie ihm vor, er putze den Boden unter seiner Pritsche nicht, andere Gefangene müssten diese Schmutzarb­eit für ihn machen. Aber die Zeitung Nowaja Gaseta verweist auf Artikel 165 der Russischen Straflager­ordnung, nach dem für das Säubern der Baracken bestimmte Häftlinge angestellt und bezahlt werden. Dass diese in der Praxis meist mit Rückendeck­ung der Lagerleitu­ng Mitgefange­ne zum Schrubben zwingen, scheint für Butina nur recht und billig zu sein. „Der Auftritt dieser Dame hat demonstrie­rt, was der Staat von den Häftlingen und ihren Rechten hält“, sagt der Regimekrit­iker Maxim Gromow.

Newspapers in German

Newspapers from Germany