So kommen Kinder und Eltern gut durch die Krise
Probleme durch fehlende soziale Kontakte: Ein Kinder- und Jugendpsychologe gibt Antworten
AALEN - Gelernt wird nur zu Hause, Freunde treffen darf man nicht: Kinder und Jugendliche haben stark unter den aktuellen Corona-Beschränkungen zu leiden. Anja Lutz hat bei Dr. Jens Retzlik nachgefragt, welche Folgen das haben kann und was Eltern tun können. Retzlik ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und Psychosomatik an den Kliniken Ostalb. Die Abteilung hat ihren Sitz an der Sankt-Anna-Virngrund-Klinik in Ellwangen.
Welche psychischen Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche? Generell sind Kinder und Jugendliche sehr lern- und anpassungsfähig, können daher auch aus Krisen lernen und gefestigt aus ihnen herausgehen. Eltern und Kinder sind aktuell zwar vor außerordentliche Herausforderungen gestellt, leisten und schaffen aber gerade Enormes. Pauschal daher von einer „Generation Corona“zu sprechen oder zu sagen, dass Covid-19 generell Kinder und Jugendliche psychisch krank macht, entspricht nicht der Realität. Dennoch kann man sagen, dass sowohl in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als auch in ersten Studien gezeigt wurde, dass die psychische Belastung stark zugenommen hat. Gemäß einer Studie stieg das Risiko für psychische Auffälligkeiten von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Pandemie. Psychische Belastung meint jedoch nicht zwangsläufig auch psychische Erkrankung, sondern kann auch nur eine vorübergehende sein. Manche Kinder und Jugendliche entwickeln jedoch tatsächlich Symptome einer psychischen Erkrankung und brauchen mehr Hilfe.
Nehmen psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen deshalb zu?
Ob auch nach Ende der Pandemie mit einer anhaltend erhöhten psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen zu rechnen ist, kann aktuell noch nicht beantwortet werden. Dazu gibt es noch keine Studien. Ob aus einer erhöhten psychischen Belastung auch eine psychische Erkrankung wird, hängt immer auch stark davon ab, welche Kompetenzen ein Kind oder Jugendlicher besitzt, wie er sozial eingebunden ist und in welchem familiären Klima er aufwächst. Auch hier konnte eine Studie zeigen, dass Kinder von ElEindruck tern mit einem niedrigen Bildungsabschluss oder Migrationshintergrund besonders belastet sind. Derartige Belastungen frühzeitig zu erkennen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen rechtzeitig Unterstützung und Hilfe zur Bewältigung anzubieten, wird sehr wichtig sein.
Was wir erleben, ist in jedem Fall, ein verändertes Inanspruchnahmeverhalten durch die Patienten, sowohl was ambulante als auch stationäre Behandlungen angeht. So besteht eine gewisse Zurückhaltung für Behandlungen im Krankenhaus unter Covid-19-Bedingungen, sodass der
entsteht, dass weniger „hoch-akute“oder als "extrem belastend" wahrgenommeme Probleme häufiger „verschoben" werden. Das birgt jedoch die Gefahr, dass solche Probleme chronifizieren oder sich Komplikationen einstellen.
Welche Anzeichen können auf eine ernste psychische Erkrankung hinweisen und wann sollte man sich Hilfe holen?
Generell gilt, dass Hilfe so früh wie möglich in Anspruch genommen werden sollte. Warnsignale sind natürlich immer - auch unabhängig der Pandemie - wenn sich das Verhalten von Kindern und Jugendlichen plötzlich ändert, Verhaltensänderungen über längere Zeit andauern oder immer wiederkehren, die Probleme sehr stark ausgeprägt sind, einen hohen Leidensdruck beim Kind oder Jugendlichen hervorrufen oder die Bewältigung von alltäglichen oder alterstypischen Aktivitäten einschränken. Insbesondere eine Fremd- oder Eigengefährung, wie zum Beispiel lebensmüde Gedanken, bedarf unmittelbarer ärztlicher Abklärung. Behandlungsmöglichkeiten gibt es zum Beispiel bei den niedergelassenen Fachärzten vor Ort und/ oder in Krankenhäusern. Über die
Website www.kinderpsychiater.org erhält man die Kontaktdaten von Kinder- und Jugendpsychiatern. Angebote der Jugendhilfe sind über die örtlichen Jugendämter oder Erziehungsberatungsstellen verfügbar.
Was können Eltern und Kinder tun, um die negativen Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen möglichst gering zu halten?
Ganz wichtig ist es, mit den Kindern und Jugendlichen im Gespräch zu bleiben. Eltern können versuchen, Kinder und Jugendliche in altersgerechter Form an den Überlegungen zum Umgang mit der Pandemiesituation teilhaben zu lassen, sie zu befähigen, aktiv Lösungen zu suchen. Eine Grundhaltung wie „Uns fällt es allen nicht leicht, aber wir sind gemeinsam auf dem Weg“ist dabei für die ganze Familie unterstützend. Des Weiteren ist es ganz wichtig, Gefühle zeigen zu können. So sind klare aber freundliche Rückmeldungen der Eltern ganz wichtig, wie zum Beispiel: „Mir ist das mit dem Homeoffice zuviel, ich brauche kurz eine Pause. Ich würde mich freuen, wenn Du dir ein Buch anguckst oder etwas anderes machst. Nach meiner Pause machen wir wieder etwas zusammen“. Entscheidend ist, die Belastung nicht erst eskalieren zu lassen. Eltern sollten gut auf sich und ihre Bedürfnisse achten. Nur wer auf sich achtet, kann auch auf seine Kinder und deren Bedürfnisse achten. Eltern sollten ihre Kinder auch ermutigen, über ihre Gefühle zu reden und ihnen zuhören.
Es ist sehr wichtig, mit Familien, Freunden und anderen Bezugspersonen Kontakt zu halten. Als Alternative zu persönlichem Kontakt kann man zum Beispiel Kontakte mithilfe sozialer Medien, über Telefon, Bilder und Briefe pflegen. Dabei sollte bestehenden Schwierigkeiten nicht allzu viel Raum gegeben werden, sondern aktiv auf einen Austausch zu positiven Themen geachtet werden.
Wenn Abläufe und Alltag durcheinandergeraten, ist es wichtig, Struktur zu behalten. Ein Wochenplan mit regelmäßigen gemeinsamen Mahlund Schlafzeiten kann hier einen solchen Rahmen geben.
Auch Aktivitäten sind sehr wichtig. Insbesondere auch nicht medienbezogene Dinge wie Basteln, Malen oder Tanzen. Soweit es möglich ist, sollte man regelmäßig an die frische Luft gehen und für körperlichen Ausgleich sorgen. Die Nutzung von Online-Angeboten zur Freizeitgestaltung ist okay, allerdings ist es wichtig, dass andere Aktivitäten und Interessen dadurch nicht vernachlässigt werden. Medien-Auszeiten – für alle Familienmitglieder – sind sehr wichtig.