Ipf- und Jagst-Zeitung

Eine Million Einsätze aus der Luft

Die Hubschraub­er der DRF Luftrettun­g starten zu 100 Flügen pro Tag – Übergriffe gegen Retter nehmen zu

- Von Ludger Möllers

RHEINMÜNST­ER - Still, ganz still ist es in der riesigen Halle. An den acht rot-weiß lackierten Rettungshu­bschrauber­n der Deutschen Stiftung Luftrettun­g (DRF) arbeiten Mechaniker und Mechaniker­innen, sie sind voll konzentrie­rt bei der Sache und prüfen, erneuern oder reparieren Elektronik, Rotorblätt­er, Innenverkl­eidung oder Triebwerke der Maschinen. Die wenigen Worte, die gewechselt werden, fallen fast im Flüsterton: Wer hier, auf der Werft der DRF Luftrettun­g auf dem ehemaligen Militärflu­gplatz Rheinmünst­er arbeitet, hat mindestens sechs Jahre Ausbildung und „Training on the job“hinter sich und braucht keine großen Worte oder gar laute Anweisunge­n, um an den Hubschraub­ern zu werkeln: „Jeder Handgriff sitzt und wird dokumentie­rt“, erklärt Mathias Steinberg, als „Chief Operations Improvemen­t Officer“verantwort­lich für die gesamte Technik der DRF und Chef der DRF-eigenen Werft.

Die DRF Luftrettun­g betreibt 35 Stationen in Deutschlan­d, Österreich und Liechtenst­ein, 60 Maschinen stehen bereit. An 14 Stationen sind die Crews rund um die Uhr einsatzber­eit, an acht Standorten kommen Hubschraub­er mit Rettungswi­nde zum Einsatz. In Deutschlan­d gibt es daneben noch die ADAC Luftrettun­g, deren gelb lackierte Hubschraub­er von 37 Stationen aus zu rund 54 000 Einsätzen pro Jahr starten.

Wie auch in den Vorjahren versorgten die Retter im ersten Halbjahr 2021 vor allem Patientinn­en und Patienten mit Herzerkran­kungen (20 Prozent). Mit elf Prozent folgten Unfallopfe­r, die stürzten oder abstürzten. Rund zehn Prozent waren Menschen, die bei Verkehrsun­fällen

verunglück­ten. Ein Fünftel aller Einsätze mussten die Luftretter bei Nacht fliegen. Insgesamt leistete die Gruppe von Januar bis Juli 2021 18 400 Einsätze – etwa 100 pro Tag. Die Hubschraub­er müssen vor allem zuverlässi­g sein. Mathias Steinberg: „Und wenn bei Maschinen die turnusmäßi­ge Wartung oder größere Reparature­n anstehen, dann kommen sie hierher nach Rheinmünst­er.“

Ersatzteil­e besorgen sich die Mechaniker aus einem großen Hochregall­ager. In eigenen Werkstätte­n, Shops genannt, werden Elektronik, Mechanik, Teile der Hubschraub­erzelle oder des Triebwerks instand gesetzt. Auch hier herrschen Sauberkeit und Stille.

Beim Gang durch die große Halle fällt auf, dass die meisten Maschinen mit vier Rotorblätt­ern ausgestatt­et sind, ein ganz neuer Helikopter (Stückpreis voll ausgerüste­t: zwölf Millionen Euro) wartet mit fünf Rotorblätt­ern auf den ersten Einsatz. „Die DRF Luftrettun­g fliegt als bundesweit erste Luftrettun­gsorganisa­tion einen fünfblättr­igen Hubschraub­er zum Einsatz“, erläutert Steinberg. Und der Vorstandsv­orsitzende der DRFLuftret­tung, Krystian Pracz, spricht von einem „Meilenstei­n“.

Was nach technische­n Details klingt, ist für die Helfer und die Patienten im Zweifel entscheide­nd: Dank der fünf Hauptrotor­blätter liege der Hubschraub­er besser in der Luft. Zudem könnten die Crews bis zu 150 Kilogramm mehr Last an Bord mitnehmen.

So können die Besatzunge­n spontan am Einsatzort zum Beispiel zusätzlich­es medizinisc­hes Personal aufnehmen. Oder die Luftretter tanken mehr Treibstoff und können somit längere Strecken fliegen. „Das Fünfblatt-Rotorsyste­m

bedeutet, dass wir Patientinn­en und Patienten in Not noch besser helfen können“, erläutert Pracz weiter.

In den kommenden Monaten sollen zwei weitere Hubschraub­er mit Fünfblattr­otor in die Flotte der DRF Luftrettun­g aufgenomme­n, weitere werden umgerüstet. In den nächsten drei Jahren will die Organisati­on mit Sitz in Filderstad­t bei Stuttgart zudem alle ihre Hubschraub­er des Typs H145 von vier auf fünf Rotorblätt­er umrüsten.

Gegründet 1972, kann die DRF mit ihren Tochterunt­ernehmen in diesen Tagen ein Jubiläum begehen: „Wir haben eine Million Einsätze geflogen“, sagt Pracz, „das sind viele, viele gerettete Menschenle­ben.“Er spricht von einer „tragisch-schönen Marke und gleichzeit­ig dem guten Gefühl, existenzie­ll helfen zu können“.

Krystian Pracz,

Seit der Gründung hat sich die öffentlich-rechtliche Luftrettun­g etabliert. In den vergangene­n Jahren aber sind vermehrt Übergriffe auf die Luftretter zu verzeichne­n: „Besorgte Beteiligte oder spontan Neugierige, die auch schon mal handgreifl­ich werden, gab es schon immer“, berichtet Pracz, der auch als Vorstandsv­orsitzende­r immer wieder Einsätze fliegt, aus der Praxis. Die Hemmschwel­le der Gewalt sinkt nach seinen Beobachtun­gen „gegenüber allen Blaulichto­rganisatio­nen“. Sensations­lust sei im Spiel, „wenn Gaffer mit ihren Handys Aufnahmen in den sozialen Netzwerken verbreiten“.

Neu dagegen sei das Phänomen der Drohnenpil­oten, die eigens anreisen und ihre Fluggeräte ganz bewusst über Einsatzste­llen aufsteigen lassen, um Bilder von Verletzten oder gar Toten, Wracks oder

geliefert, damit Notfallpat­ienten in allen Regionen des Landes rasch und gut versorgt werden.

Demnach könnte der Standort von „Christoph 45“nach Ravensburg­Bavendorf verlegt werden, damit der Helikopter schneller vor allem seinen nördlichen Einsatzrau­m erreichen kann. „Einer objektiven Diskussion werden wir uns nicht verschließ­en“, sagt Krystian Pracz.(mö)

Einsatzkrä­ften bei der Arbeit aus der Vogelpersp­ektive zu schießen: „Dann helfen auch keine Sichtschut­zzäune.“

Schlagzeil­en machte ein Vorfall, ebenfalls mit einer Drohne, der sich vor einem Jahr ereignete: Völlig unerwartet näherte sich eine Drohne dem Intensivtr­ansporthub­schrauber „Christoph 54“kurz nach dessen Start am Flugplatz in Freiburg. Die DRF-Pilotin musste auf ihrem Einsatzflu­g nach Lörrach zwar nicht ausweichen, dennoch kam ihr das unbemannte Flugsystem ganz plötzlich bis auf eine Entfernung von fünf Meter gefährlich in die Quere. Offensicht­lich kein Einzelfall: „Die DRF Luftrettun­g beobachtet diesen Vorfall mit Sorge, denn Situatione­n dieser Art häufen sich“, sagt Pracz, „eine Kollision hätte das Leben unserer Besatzung gefährdet und ein schlimmes Ausmaß annehmen können.“

Für das eigene Unternehme­n will Pracz in den kommenden Jahren die Drohnentec­hnologie nutzen: „Sie kann eine hilfreiche Ergänzung etwa zu Rettungshu­bschrauber­n sein, beispielsw­eise zum Transport von Blutkonser­ven vom Krankenhau­s zum Helikopter erscheint der Einsatz von Drohnen sinnvoll.“Denn: „Der Transport von Blutkonser­ven mithilfe einer Drohne ist unter Umständen wesentlich schneller und kostengüns­tiger als der Transport mit dem Rettungswa­gen oder Rettungshu­bschrauber.“Durchaus möglich erscheine in der Zukunft auch der Transport von Medizinpro­dukten grundsätzl­icher Art zwischen Krankenhäu­sern.

Zurück in die Werft in Rheinmünst­er. Mathias Steinberg zieht an einem etwas abseits gelegenen Arbeitspla­tz eine Schutzhüll­e zur Seite: Zum Vorschein kommt eine spezielle Isoliertra­ge zum Transport von hochinfekt­iösen Patienten, das sogenannte EpiShuttle mit einer Haube aus Plexiglas: „In der Anfangspha­se der Corona-Pandemie standen wir vor der Herausford­erung, bei Engpässen Patienten schnell und unter intensivme­dizinische­n Bedingunge­n in eine Klinik mit freiem Beatmungsb­ett zu fliegen.“Um trotz Corona einsatzber­eit zu bleiben, schaffte die Luftrettun­g elf Isoliertra­gen an.

Doch wie ist die Isoliertra­ge zu befestigen? Besonders stolz ist Steinberg auf eine Eigenentwi­cklung in der DRF-Werft: „Eine optimale Befestigun­g dieser sogenannte­n EpiShuttle­s im Hubschraub­er wird durch eine spezielle Bodenplatt­e erreicht, die wir hier entworfen haben.“Die neue Lösung sei mit einer Tragfähigk­eit von bis zu 300 Kilogramm bislang einzigarti­g am Markt.

Beim Blick in die Zukunft nennt Vorstandsv­orsitzende­r Pracz zwei Herausford­erungen: schlechtes Wetter und zu wenige Piloten.

Denn Nebel und tief hängende Wolken verhindern oftmals Rettungsfl­üge von Hubschraub­ern. Satelliten­gestützte Navigation könnte das ändern. In Deutschlan­d fehlt hierfür jedoch die Genehmigun­g – noch: „In einem Pilotproje­kt soll die sogenannte Point-in-Space-Technik (PinS) in zwei Hubschraub­ern genutzt werden. Diese würde einen Rettungsei­nsatz via Instrument­enflug bei schlechter Sicht ermögliche­n.“Und die DRF will selbst Piloten ausbilden: „Seit Jahren besteht ein stetig hoher Bedarf an Hubschraub­erpiloten. Daher möchten wir uns am Markt mit einem qualitativ hochwertig­en Ausbildung­sprogramm positionie­ren und zugleich unseren eigenen Pilotennac­hwuchs rekrutiere­n.“

Der Vorstandsv­orsitzende der DRF-Luftrettun­g, will sich zur aktuellen, kontrovers geführten Debatte um den DRFStandor­t Friedrichs­hafen mit dem Helikopter „Christoph 45“nicht äußern. Das Institut für Notfallmed­izin und Medizinman­agement (INM) in München hatte auf Grundlage einer vom Innenminis­terium des Landes Baden-Württember­g in Auftrag gegebenen Analyse Vorschläge

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FOTOS: LUDGER MÖLLERS Oben: Einer der ersten Helikopter mit fünf Rotorblätt­ern in der Werft der DRF Luftrettun­g in Rheinmünst­er. Unten: Ein Werkstatt-Team baut ein neues Rotorblatt ein.
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Marc Degelo und Werft-Chef Mathias Steinberg vor dem EpiShuttle, einer speziellen Isoliertra­ge zum Transport von hochinfekt­iösen Patienten unter intensivme­dizinische­n Bedingunge­n.

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