„Manche haben gedacht, bei der Bahn werde nicht mehr gestreikt“
Der Arbeitsrechtler Richard Giesen über das Tarifeinheitsgesetz und die Besonderheiten bei der Bahn
BERLIN - Es hat zwei Gründe, warum bei der Bahn die GDL so viel schlagkräftiger ist als Spartengewerkschaften in anderen Branchen. Der Arbeitsrechtsprofessor Richard Giesen von der Ludwig-Maximilians-Universität München erklärt.
Herr Giesen, der Streik der Lokführer legt Deutschland wieder mal still. Dabei sollte das Tarifeinheitsgesetz doch die Macht kleiner, mächtiger Spartengewerkschaften beschneiden. Ist es gescheitert? Ich sehe es nicht als gescheitert an, weil wir mehr als sechs Jahre relative Ruhe hatten und es in Branchen jenseits der Bahn sehr gut wirkt: im Klinikbereich und in der Luftfahrt zum Beispiel. Außerdem sind keine neuen Spezialgewerkschaften hinzugekommen. Manche haben aber gedacht, bei der Bahn werde nicht mehr gestreikt. Das war allerdings nie das Ziel des Gesetzgebers.
Was dann?
Es ging darum, Verteilungsstreitigkeiten durch Funktionseliten künftig zu verhindern. Tarifverträge sollten nach dem Mehrheitsprinzip gelten. Das Gesetz regelt, dass immer nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat.
Das bedeutet doch aber, dass eine kleine Gewerkschaft gar keine Handhabe hat, mehr Geld oder bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder auszuhandeln. Wurde nicht einfach nur das Recht des Stärkeren gesetzlich festgeschrieben?
Nein, ein Mehrheitsrecht. Der Gesetzgeber möchte nicht, dass Manager gegen Arbeiter oder Techniker gegen Produktionsbeschäftigte um das Personalbudget des Betriebes streiten. Das Konzept lautet: ein Betrieb, ein Tarif. Es geht um Solidarität. Sonst könnten kleine Gruppen mit großer Schlagkraft mehr für sich aushandeln, weil sie den Betrieb lahmlegen können. Piloten etwa, Lokführer oder Ärzte. Eine Gewerkschaft der Reinigungskräfte würde
(Foto: OH) ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht an der LudwigMaximilians-Universität München und Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht. (kg)
so etwas nie schaffen, weil die Beschäftigten sofort ersetzt werden können.
Warum funktioniert das Tarifeinheitsgesetz dann bei der Bahn nicht?
Bei der Bahn hat die kleine Gewerkschaft aus zwei Gründen mehr Macht. Erstens regelt das Tarifeinheitsgesetz nicht, ob man streiken kann. Und zweitens hat die GDL inzwischen in 16 der 300 Bahnbetriebe eine Mehrheit. Das heißt, ein Tarifvertrag mit der GDL würde in diesen 16 Betrieben für alle Beschäftigten gelten. Wenn es in keinem Betrieb eine Mehrheit der GDL gäbe, könnte die Bahn entspannt einen Tarifvertrag abschließen, den sie später nicht anwenden müsste.
Die Mitglieder der GDL in den anderen Betrieben hätten also von einem neuen Tarifvertrag nichts?
So ist es. Allerdings versucht das Management der Bahn, der GDL die Hand zu reichen, indem sie Regelungen sucht, die dann auch für die GDL-Mitglieder in den anderen Betrieben gelten. Vom Tarifeinheitsgesetz kann nämlich auch abgewichen werden – wenn die stärkere Gewerkschaft zustimmt. Und das ist das Problem: Bei solch einer Regelung müsste die konkurrierende Eisenbahnund Verkehrsgewerkschaft EVG mitmachen.
Warum sollte sie das tun?
Weil sie so dafür sorgen könnte, dass umgekehrt in den 16 Betrieben die EVG-Tarifverträge auf die EVG-Mitglieder angewandt werden, obwohl dort die GDL die Mehrheit hat.