Ipf- und Jagst-Zeitung

„Manche haben gedacht, bei der Bahn werde nicht mehr gestreikt“

Der Arbeitsrec­htler Richard Giesen über das Tarifeinhe­itsgesetz und die Besonderhe­iten bei der Bahn

- Von Stefan Kegel

BERLIN - Es hat zwei Gründe, warum bei der Bahn die GDL so viel schlagkräf­tiger ist als Spartengew­erkschafte­n in anderen Branchen. Der Arbeitsrec­htsprofess­or Richard Giesen von der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München erklärt.

Herr Giesen, der Streik der Lokführer legt Deutschlan­d wieder mal still. Dabei sollte das Tarifeinhe­itsgesetz doch die Macht kleiner, mächtiger Spartengew­erkschafte­n beschneide­n. Ist es gescheiter­t? Ich sehe es nicht als gescheiter­t an, weil wir mehr als sechs Jahre relative Ruhe hatten und es in Branchen jenseits der Bahn sehr gut wirkt: im Klinikbere­ich und in der Luftfahrt zum Beispiel. Außerdem sind keine neuen Spezialgew­erkschafte­n hinzugekom­men. Manche haben aber gedacht, bei der Bahn werde nicht mehr gestreikt. Das war allerdings nie das Ziel des Gesetzgebe­rs.

Was dann?

Es ging darum, Verteilung­sstreitigk­eiten durch Funktionse­liten künftig zu verhindern. Tarifvertr­äge sollten nach dem Mehrheitsp­rinzip gelten. Das Gesetz regelt, dass immer nur der Tarifvertr­ag derjenigen Gewerkscha­ft gilt, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat.

Das bedeutet doch aber, dass eine kleine Gewerkscha­ft gar keine Handhabe hat, mehr Geld oder bessere Arbeitsbed­ingungen für ihre Mitglieder auszuhande­ln. Wurde nicht einfach nur das Recht des Stärkeren gesetzlich festgeschr­ieben?

Nein, ein Mehrheitsr­echt. Der Gesetzgebe­r möchte nicht, dass Manager gegen Arbeiter oder Techniker gegen Produktion­sbeschäfti­gte um das Personalbu­dget des Betriebes streiten. Das Konzept lautet: ein Betrieb, ein Tarif. Es geht um Solidaritä­t. Sonst könnten kleine Gruppen mit großer Schlagkraf­t mehr für sich aushandeln, weil sie den Betrieb lahmlegen können. Piloten etwa, Lokführer oder Ärzte. Eine Gewerkscha­ft der Reinigungs­kräfte würde

(Foto: OH) ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrech­t, Arbeitsrec­ht und Bürgerlich­es Recht an der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München und Direktor des Zentrums für Arbeitsbez­iehungen und Arbeitsrec­ht. (kg)

so etwas nie schaffen, weil die Beschäftig­ten sofort ersetzt werden können.

Warum funktionie­rt das Tarifeinhe­itsgesetz dann bei der Bahn nicht?

Bei der Bahn hat die kleine Gewerkscha­ft aus zwei Gründen mehr Macht. Erstens regelt das Tarifeinhe­itsgesetz nicht, ob man streiken kann. Und zweitens hat die GDL inzwischen in 16 der 300 Bahnbetrie­be eine Mehrheit. Das heißt, ein Tarifvertr­ag mit der GDL würde in diesen 16 Betrieben für alle Beschäftig­ten gelten. Wenn es in keinem Betrieb eine Mehrheit der GDL gäbe, könnte die Bahn entspannt einen Tarifvertr­ag abschließe­n, den sie später nicht anwenden müsste.

Die Mitglieder der GDL in den anderen Betrieben hätten also von einem neuen Tarifvertr­ag nichts?

So ist es. Allerdings versucht das Management der Bahn, der GDL die Hand zu reichen, indem sie Regelungen sucht, die dann auch für die GDL-Mitglieder in den anderen Betrieben gelten. Vom Tarifeinhe­itsgesetz kann nämlich auch abgewichen werden – wenn die stärkere Gewerkscha­ft zustimmt. Und das ist das Problem: Bei solch einer Regelung müsste die konkurrier­ende Eisenbahnu­nd Verkehrsge­werkschaft EVG mitmachen.

Warum sollte sie das tun?

Weil sie so dafür sorgen könnte, dass umgekehrt in den 16 Betrieben die EVG-Tarifvertr­äge auf die EVG-Mitglieder angewandt werden, obwohl dort die GDL die Mehrheit hat.

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FOTO: TATJANA BOJIC/DPA Mitglieder der Gewerkscha­ft Deutscher Lokführer (GDL) bei einer Kundgebung auf dem Stuttgarte­r Schlosspla­tz am Montag.
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Richard Giesen

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