Und immer wieder Todesangst
Sechs Wochen nach der Flut im Ahrtal dauert der Wiederaufbau an – Viele Menschen arbeiten bis zur Erschöpfung
INSUL/ALTENAHR/SCHULD (dpa) Bernd Gasper hat alles verloren. Hotelier Wolfgang Ewerts baut drei Häuser wieder auf. Und dem Ehepaar Wurst schwinden die Kräfte. Rund sechs Wochen nach der verheerenden Flutwelle im Ahrtal sind Tausende Häuser in den Rohbau zurückversetzt – und müssen jetzt monatelang austrocknen, in vielen wird noch immer Putz abgeschlagen.
Die ersten besonders stark beschädigten Häuser sind abgerissen, die meisten der meterhohen, mit Öl verseuchten, Schlamm überzogenen Müllberge abtransportiert und einige Notbrücken über der Ahr errichtet. Doch die Folgen der zerstörerischen Gewalt, mit der sich die tsunamiartige Welle durch das idyllisch gelegene Tal gebrochen hat, sind noch überall zu sehen.
Die Menschen zwischen Schuld und Sinzig in Rheinland-Pfalz lässt die Katastrophennacht des 14. Juli noch lange nicht los. 133 Menschen kamen in den Wassermassen um. 766 wurden verletzt. Drei werden noch immer vermisst.
Viele Überlebende überwältigt immer wieder die Todesangst, in der sie viele Stunden gefangen waren. Wieder und wieder finden die schrecklichen Erinnerungen an die Flutnacht einen Weg in ihren Alltag, und sie kämpfen mit den Tränen und mit Verzweiflung.
„Wir haben die ganze Nacht nicht gewusst, ob der andere noch lebt“, erzählt etwa Bianca Wurst, die innerhalb von zehn Minuten von den Wassermassen von ihrem Mann getrennt wurde und die Horrornacht allein mit der Katze in Dunkelheit auf dem Dachboden ihres Hauses verbringen musste. Ihren Mann Christoph überkam kürzlich eine Panikattacke, als sich auf einem Platz Regen zu einem wachsenden Rinnsal sammelte.
Bernd Gasper, der mit seiner Frau am Tag nach einer Nacht voller Todesangst von einem Hubschrauber vom Dach seines Elternhauses im besonders schwer getroffenen Altenahr-Altenburg gerettet wurde, muss immer wieder an das Zischen der Gastanks denken, die – von der Flut mitgerissen –, gegen sein Haus prallten und zu explodieren drohten. „Ich habe mit meiner Frau in totaler Dunkelheit auf dem Dach gesessen und versucht, sie zu beruhigen“, erinnert sich der 69-Jährige. „Dabei wusste ich die ganze Zeit: Wenn der Giebel unterspült wird, dann ersaufen wir hier.“
Das Paar ist in einem renovierungsbedürftigen Haus bei Wachtberg
in der Nähe von Bonn untergekommen. Gasper packt dort an – und in Altenburg. Beim Blick auf sein schwer beschädigtes Elternhaus, in dem er und seine beiden Brüder zur Welt kamen und er mit seiner Frau gelebt hat, überkommen ihn die Tränen.
Zu den kräftezehrenden Anstrengungen der Menschen im Ahrtal, das eigene völlig verschlammte Haus mitsamt den unbrauchbaren Erinnerungen, Papieren und Möbeln zu entmüllen und wieder bewohnbar zu machen, kommen Existenz- und Zukunftssorgen. Die Soforthilfen sind zwar angekommen, reichen aber nicht lange.
Wann Geld aus dem mit 30 Milliarden Euro ausgestatteten Hilfsfonds von Bund und Ländern für Rheinland-Pfalz und NordrheinWestfalen
fließen wird, und wie viel – das kann sich noch keiner so recht vorstellen. Eine Elementarversicherung haben nur wenige.
„Und wenn man dachte, man ist elementarversichert, merkt man jetzt, dass das so einfach nicht ist“, sagt Achim Gasper. Manche Klausel gelte nur bei Hochwasser, aber nicht bei Starkregen oder bei Wasserrückstau. „Die Versicherung behandelt das auch so, als ob nur ein Haus beschädigt wurde“, kritisiert der 37Jährige. „Hier ist aber alles kaputt. Kernschrott“, sagt der Berufssoldat.
„Dazu kommt ja auch noch die psychische Komponente“, ergänzt sein Bruder Oliver. Der 40 Jahre alte Kripobeamte entkam den Wassermassen mit seiner Frau und den drei und sechs Jahre alten Kindern paddelnd auf einem Surfbrett.
Besonders schlimm für die Gaspers: Bernds Schwiegermutter konnte sich in der Flutnacht nicht retten. „Ich war noch um 19 Uhr bei der Oma, wenn sie rechtzeitig evakuiert hätten, würde sie noch leben“, sagt Achim Gasper. Warum der Katastrophenalarm nicht ausgelöst wurde und die Menschen nicht aufgerufen wurden, ihre Häuser zu verlassen, versteht keiner der drei Männer. „Hier kann man überall schnell auf die Berge hoch“, sagt Bernd Gasper.
„Jetzt brauchen wir Macher und keine Sesselfurzer, sonst geht die Region unter“, formuliert es Hotelier Wolfgang Ewerts aus Insul. Viele, die erst weggehen wollten, kämen jetzt doch zurück. „So schnell verlässt man seine Heimat nicht.“
Das Verhalten von Landrat Jürgen Pföhler (CDU) in der Krise bewertet
beherrschen“. Mit Blick auf die Corona-Pandemie und die Flut sagte er: „Wir müssen Lehren ziehen aus dieser doppelten Katastrophenerfahrung und uns besser vorbereiten für künftige Krisen.“Jetzt erfahre man aufs Neue die Mitmenschlichkeit, „die wir in der Pandemie erlebt haben“. (dpa)
Ewerts mit „Note 6 minus“und spricht von einer „Enttäuschung auf ganzer Linie“. Christoph Wurst aus Schuld meint, viele Menschen, zumindest aber die zwölf aus einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Sinzig hätten doch gerettet werden können, wenn rechtzeitig gewarnt und evakuiert worden wäre. „Zwischen der Flut in Schuld und Sinzig lagen doch viele Stunden.“
Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt gegen Pföhler und ein weiteres Mitglied des Krisenstabes. Dabei geht es um den Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen am Flutabend des 14. Juli. Der Katastrophenalarm soll sehr spät ausgelöst worden sein.
„Alle sind ein bisschen gereizt und angespannt“, beschreibt Ewerts, der auch Gemeinderatsmitglied ist, die Stimmung in dem knapp 500 Einwohner großen Ort. Es gebe manchmal auch Neid, weil der eine schneller Geld oder früher einen Handwerker bekommen habe. Vor allem samstags kämen dankenswerterweise immer noch private Helfer aus ganz Deutschland und packten mit an. Deren Einsatz und die Solidarität sind für die meisten Bewohner des Ahrtals unfassbar – und gehören zu den wenigen Glücksmomenten der Bewohner.