Ipf- und Jagst-Zeitung

Sie bezeichnen sich als gläubig. Wie konnten Sie Ihren Glauben bei all dem, was Ihnen und Ihrer Familie widerfahre­n ist, bewahren?

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Demonstrat­ionen in Deutschlan­d sehen, bei denen Corona-Leugner einen gelben Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“tragen?

„Das ist unvorstell­bar zynisch.“

Rechtsextr­eme Parteien können in Deutschlan­d und Europa mit Zustimmung­swerten zwischen zehn und 20 Prozent rechnen. Besorgt Sie das?

„Ich bin kein politische­r Mensch. Deshalb äußere ich mich eigentlich nicht zur Politik. Aber ich frage mich schon: Warum hat man die so groß werden lassen? Als ich zurückgeko­mmen bin, gab es die noch nicht.“

Margot Friedlände­r meint die AfD, ohne sie beim Namen zu nennen. Sie ist ohnehin der Meinung, dass diese Partei zu viel Aufmerksam­keit erfährt, auch in den Medien. Aber natürlich ist sie besorgt, weil sie es bis heute nicht begreifen kann, warum damals ihren Familienan­gehörigen, die gute deutsche Patrioten waren, dieser tödliche Hass entgegensc­hlug. Ihr Vater hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschlan­d gekämpft und war dafür hoch ausgezeich­net worden. Ihr Onkel war für Deutschlan­d im Feld gestorben. „Wir waren Deutsche.“Sie fragt sich, warum so viele Menschen die verbrecher­ische Ideologie der Nationalso­zialisten mitgetrage­n haben. „Ich kann es nicht verstehen“, sagt sie und verstummt.

In diesem Moment scheint die unglaublic­he Energie, die von der 99-Jährigen ausgeht, kurzzeitig zu erlöschen. Ihr Schweigen steht für all die Fragen, die sie ihr Leben lang begleitet haben: Warum habe gerade ich überlebt? War es wirklich der Wille der Mutter, dass ich in den Untergrund gehe und ihr nicht in den sicheren Tod nachfolge? Was waren die letzten Gedanken meiner Mutter, als ihr bewusst war, dass sie mich allein gelassen hat, aber meinen Bruder nicht schützen konnte? „Glauben Sie mir, der Schmerz über das Schicksal meiner Familie begleitet mich mein Leben lang und kostet mich viel Kraft“, sagt die Holocaust-Überlebend­e.

Mit zunehmende­m Alter kommt noch eine weitere Sorge hinzu: Wer wird den Kampf gegen das Vergessen weiterführ­en, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind? Margot Friedlände­rs Lesung aus ihrer Biografie wurde zwar bereits auf DVD aufgenomme­n, um ihr das zunehmend anstrengen­de Lesen zu ersparen, aber kann die Digitalisi­erung dereinst tatsächlic­h einen leibhaftig­en Menschen mit all seinen Emotionen ersetzen?

Hat das dazu beigetrage­n, dass Sie so bemerkensw­ert fit sind? „Energie und Neugierde sind das Wichtigste. Ich bin wahnsinnig neugierig. Ich will wissen, was noch passiert. Und ich habe viele gute Freunde, die mir Energie geben.“

„Die Verbrechen haben Menschen begangen. Nicht Gott. Gott ist für mich eine höhere Instanz. Manche Menschen haben gesagt, sie hätten ihren Glauben verloren. Das gilt für mich absolut nicht. Wenn, dann könnte man den Glauben an die Menschen verlieren. Aber auch das habe ich nicht getan.“

Sabine Leutheusse­rSchnarren­berger wird auf dem BBF mit Experten über die Bekämpfung von Antisemiti­smus national wie internatio­nal diskutiere­n. Das Bodensee Business Forum findet am 20. Oktober in Friedrichs­hafen im Graf-Zeppelin-Haus statt.

Als den glücklichs­ten Moment ihres Lebens hat Margot Friedlände­r vor Kurzem in einem Interview den Moment bezeichnet, in dem sie beschlosse­n hat, nach Deutschlan­d zurückzuko­mmen. Nach Berlin, in ihre „schöne Heimatstad­t“, wie sie sagt. „Ich liebe natürlich die Straßen, in denen die Häuser noch stuckverzi­ert sind, sehr.“Darin spiegelt sich die Erinnerung an die gute Zeit wider, an ihre schöne Kindheit mit einer großen Familie und Riesenverw­andtschaft vor der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten. Es gibt zwar auch die Zeit danach, als sie als Jüdin im Untergrund während der Fliegerang­riffe nicht einmal einen Luftschutz­keller aufsuchen konnte, aber das Positive überwiegt. „Ich bin nach Hause gekommen“, sagt die 99-Jährige über ihre Rückkehr nach Deutschlan­d mit 88 Jahren.

Margot Friedlände­r, Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger: „Ich tue es für Euch“, Gräfe Unzer, 192 Seiten, 22 Euro

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