Frau Friedländer, was ist am 20. Januar 1943 passiert?
Frau Friedländer, erklären Sie uns bitte den Titel des Buches. Was meinen Sie mit der Aussage: Ich tue es für Euch?
„Ich spreche für alle, die man umgebracht hat. Nicht nur für sechs Millionen Juden, sondern für alle ermordeten Menschen. Vergesst nicht, wie viele Deutsche die Hand für die Nationalsozialisten erhoben haben. Sie haben es gemacht, weil sie Menschen nicht als Menschen anerkannt haben. Es ist für Euch. Was war, können wir nicht ändern. Aber es darf nie wieder geschehen. Ich möchte nicht, dass einer von Euch jemals so etwas erleben muss, was wir erlebt haben. Ich habe die Mission, möglichst vielen jungen Menschen meine Geschichte zu erzählen, damit nicht vergessen wird, was war. Es geht um Eure Zukunft, Euer Wohl.“
Es ist ein warmer Nachmittag in Berlin. Die Temperaturen sind noch sommerlich, das Licht bereits herbstlich. Margot Friedländer empfängt in der Lobby der Seniorenresidenz, in der sie seit ihrer Rückkehr aus den USA lebt.
Mit 88 Jahren kehrte sie der Metropole New York den Rücken und zog mit ihren Möbeln und ihren Erinnerungen in ihre Heimatstadt Berlin. Seit Februar 2010 lebt sie nun dauerhaft in der Stadt, wo sie im Frühjahr 1944 verhaftet und ins Ghetto Theresienstadt deportiert worden war. Zuvor hatte sie sich mehr als ein Jahr im Untergrund versteckt. Ihre Familie – ihre Mutter, ihr Vater, ihr vier Jahre jüngerer Bruder – hat den Naziterror nicht überlebt. Sie starben, wie Margot Friedländer Ende der 1950er-Jahre offiziell bestätigt bekam, in den Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Wenn sie von ihrer Familie erzählt, wird klar, dass keine Zeit diese Wunden heilen kann, die der damals jungen Frau zugefügt wurden. Die Stimme der fast 100-Jährigen klingt brüchig, wenn sie von ihrem so vielfach begabten jüngeren Bruder Ralph und der „Mutti“spricht. Auch die Frage, warum der Vater noch nach der Trennung von seiner Frau, als er selbst bereits in Belgien lebte, ihre Ausreise aus Deutschland verhinderte, lässt sie nicht los. Dass auch er in Auschwitz umgebracht worden war, erfuhr sie erst durch ein Papier, das sie im Zuge der deutschen Wiedergutmachungspolitik bekommen hat. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie mit ihrem Mann, Adolf Friedländer, den sie 1945 in Theresienstadt geheiratet hat, seit vielen Jahren in New York.
Margot Friedländer hat ein Buch mitgebracht, dem man deutlich ansieht, wie oft sie es schon in Gebrauch hatte. Es ist ihre 2008 erschienene Biografie „Versuche, dein Leben zu machen“. Die Seiten des gebundenen Exemplars wirken etwas zerfleddert, mit farbigen Zettelchen hat sie die Textstellen markiert, die sie in den vergangenen Jahren bei Hunderten Schulbesuchen vorgelesen hat. Sie hat noch einen weiteren Umschlag dabei. In dem bewahrt sie ihren Judenstern auf und ein Adressbuch. Um den Hals trägt die zierliche Frau mit den großen braunen Augen eine Kette aus verschiedenfarbigem Bernstein. Adressbuch, Bernsteinkette und eine Handtasche – das ist alles, was ihr von der Mutter geblieben ist, nachdem diese am 20. Januar 1943 freiwillig zur Gestapo gegangen war. Das war der Tag, an dem in Margot Friedländers Leben nichts mehr so war wie zuvor. Die 21-Jährige tauchte an diesem Tag in den Untergrund ab und lebte bis zu ihrer Verhaftung und Deportation in wechselnden Verstecken in Berlin.
„Wir wollten eigentlich fliehen an diesem Tag. Deshalb bin ich die Skalitzer Straße in Kreuzberg, wo wir gewohnt haben, hinuntergegangen. Vor mir lief ein Mann, der nach Gestapo oder SS aussah. Er ging in das Haus, in dem wir gewohnt haben. Ich ging hinter ihm her und sah, dass er vor unserer Wohnung in der zweiten Etage stehen blieb. Ich bin an ihm vorbeigegangen, den Stern an meinem Mantel habe ich mit meiner Handtasche verdeckt, und habe dann eine Etage höher bei einer Nachbarin geklingelt. Sie hat mich reingelassen und mir erzählt, dass mein Bruder Ralph in einen Polizeiwagen gestoßen worden war. Meine Mutter war eine Stunde später nach Hause gekommen, die Wohnung war versiegelt, und die Nachbarin erzählte ihr, was passiert war. Daraufhin ist meine Mutter zu jüdischen Nachbarn zwei Häuser weiter gegangen. Ich bin auch dorthin, in der Hoffnung, meine Mutter zu sehen. Doch die Nachbarin sagte mir, meine Mutter sei gegangen. Sie hat mir die mündliche Nachricht übermittelt: ,Ich gehe mit Ralph. Wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.‘ Dann drückte mir die Frau die Tasche meiner Mutter in die Hand.
Drinnen waren die Kette und ihr Notizbuch mit den Adressen. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter sofort nach ihrer Deportation nach Auschwitz am 29. Januar 1943 ins Gas gegangen ist, mein Bruder war am 24. Februar 1943 tot.“
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie Ihre Mutter und Ihren Bruder nicht wiedersehen werden?
„Eine Woche vor der Befreiung von Theresienstadt im Mai 1945 kam ein Zug aus Auschwitz mit Hunderten von Männern an. Ich habe damals als Hilfskrankenschwester gearbeitet. Als die Viehwaggons aufgemacht wurden, sind die Lebenden und die Toten rausgefallen – in ihren Pyjamas, ohne Haare, ohne Schuhe oder Holzpantinen. Die Lebenden sahen aus wie die Toten. In diesem Moment wusste ich, dass ich meine Mutter und meinen Bruder verloren habe.“
Obwohl es sie Kraft und Energie kostet, erzählt Margot Friedländer diese Geschichte, ihre Geschichte, seit vielen Jahren wieder und wieder. Sie hat auch noch als hochbetagte Frau – bis zur CoronaPandemie – Schulen besucht, vorgelesen und die Fragen der Schülerinnen und Schüler beantwortet. Es ist ihr Weg, gegen das Vergessen anzugehen, um Jugendliche, die meistens wohlbehütet aufgewachsen sind, aufmerksam zu machen auf die Gefahren, die einer Gesellschaft drohen, wenn sie ihre Minderheiten nicht gut beschützt. Dabei geht es ihr nicht nur um den Antisemitismus, es geht ihr um jede Form von Diskriminierung. Dieser Geisteshaltung begegnet sie mit einem klaren Konzept der Menschlichkeit. „Es gibt kein jüdisches, kein christliches und kein muslimisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut“, sagt sie. „Wir kommen alle als kleine Menschen auf die Welt. Der einzige Unterschied ist ein männliches und ein weibliches Wesen.“
Sie haben gerade gesagt, Ihr Auftrag an jüngere Generationen ist, wachsam zu sein. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute