Weniger Azubis wegen Corona
Zahl der Lehrverträge geht im Südwesten erneut zurück – Jugendlichen fehlt berufliche Orientierung
RAVENSBURG/STUTTGART - Keine Schnuppertage, keine Praktika, keine Gespräche mit Ausbildern, Meistern oder künftigen Chefs: Die CoronaPandemie hat seit Frühjahr 2021 viele Kontakte zwischen baden-württembergischen Betrieben und potenziellen Bewerbern für Ausbildungsplätze verhindert. Die Folge: Den Schulabgängern fehlte Orientierung, Information – und damit der Mut und die Entschlusskraft, sich für eine duale Ausbildung zu entscheiden.
So interpretiert auf alle Fälle Marjoke Breuning, die Vizepräsidentin des Baden-Württembergischen Industrieund Handelskammertages (BWIHK), die aktuelle Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge. „Die Pandemie hat dazu geführt, dass sich viele junge Menschen verunsichert fühlen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen“, sagte Marjoke zum Start des Ausbildungsjahres am 1. September. Natürlich habe man sich bemüht, diesen Austausch auch digital zu organisieren. Aber „das hat eben nicht gereicht“, erklärte Breuning. „Berufspraxis und Werkstattluft lassen sich nicht per Laptop erleben.“
Und das ausgebliebene Erschnuppern der Werkstattluft hat deutliche Spuren hinterlassen: Die Zahl der neuen Verträge zwischen Lehrlingen und Unternehmen sank nach dem Einbruch im Corona-Jahr 2020 in diesem Jahr erneut. Mit 32 355 Neueinträgen bei den Industrie- und Handelskammern im Südwesten sind das 5,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor und mehr als 20 Prozent weniger als im Nicht-Corona-Jahr 2019, wie der BWIHK mitteilte.
Das Problem sind nach Angaben des BWIHK nicht die fehlenden Ausbildungsplätze, sondern die ausbleibenden Bewerber. „Die Ausbildungsbereitschaft bei den Unternehmen ist ungebrochen hoch. Leider lässt sich das nicht an den Zahlen der neuen Verträge ablesen“, erläuterte Breuning. „Das kann uns nicht zufriedenstellen, wir sind in Sorge.“
Das Verhältnis zwischen Bewerbern und offenen Stellen sei aus Sicht der Bewerber so vorteilhaft wie nie. „Jeder Jugendliche kann rechnerisch aus 1,5 Angeboten auswählen.“In der Lehrstellenbörse der Kammern sind noch mehr als 3400 Ausbildungsplätze unbesetzt, für Herbst 2022 haben die Unternehmen schon jetzt 6700 Stellen ausgeschrieben.
Rückgänge bei den Ausbildungszahlen registrieren die Kammern bei Banken, in vielen technischen Berufen – wie etwa in der Metall- und Elektroindustrie – und bei den Verkäufern. In der Industrie zeigen sich Veränderungen bei den angebotenen Lehrstellen durch die Transformationsprozesse, mit denen vor allem die Automobilindustrie und der Maschinenbau zu kämpfen haben. Das melden unter anderem die Industrieund Handelskammern in Heidenheim, Reutlingen, Stuttgart, Ulm, Mannheim und Heilbronn.
Bestimmte Berufe, wie zum Beispiel Bankkaufmann, Industriekaufmann oder Zerspanungsmechaniker, werden nach Angaben des BWIHK nicht mehr in dem Maße gebraucht wie früher. Einen Anstieg bei den Neuverträgen im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen die Kammern vor allem in den IT-Berufen, im Verkehrsund Transportgewerbe und in den Bereichen Lager, Einzelhandel sowie Groß- und Außenhandel.
Viel Aufholbedarf bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen gibt es weiterhin im Tourismus, vor allem in den Regionen, die stark von dieser Branche geprägt sind, wie beispielsweise die Region Hochrhein-Bodensee. Besser stellt sich die Situation insgesamt bei den Kammern Heilbronn-Franken, Reutlingen und Rhein-Neckar dar, wo aktuell ein leichtes Plus zu verzeichnen ist.
Die Arbeitgeber in Baden-Württemberg blicken wie der BWIHK besorgt auf die Entwicklung. „Dass durch coronabedingt fehlende Berufsorientierung der Schulabgänger auch die Besetzung der Ausbildungsplätze für die Betriebe schwierig ist“, verschärfe den Fachkräftemangel, sagte der Hauptgeschäftsführer der Unternehmer Baden-Württemberg (UBW), Peer-Michael Dick.
„Im August wurde in BadenWürttemberg ein Bewerberrückgang um 12,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat verzeichnet.
Im Hinblick auf die so wichtige Sicherung des Fachkräftenachwuchses ist das keine gute Nachricht.“
Wie der BWIHK und die UBW ruft auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zum Start des Ausbildungsjahres 2021 junge Menschen dazu auf, sich auch nach dem 1. September noch auf freie Ausbildungsplätze zu bewerben. „Eine duale Ausbildung ist ein guter Start in ein chancenreiches Berufsleben. Wer sich wegen der coronabedingten Einschränkungen nicht für einen konkreten Beruf entscheiden konnte, kann dies jetzt noch nachholen“, sagte Martin Kunzmann, Vorsitzender des DGB Baden-Württemberg.
So einig sich Gewerkschaften und Arbeitgeber über das Ziel sind, jedem Jugendlichen ein Ausbildungsangebot zu machen, so uneinig sind sich die Sozialpartner über die Wege. Eine staatliche Ausbildungsplatzgarantie – möglicherweise finanziert über einen umlagefinanzierten Zukunftsfonds – lehnt der BWIHK vehement ab.
„Eine solche Lösung lassen theoretische Ausbildungen völlig abgekoppelt von der Praxis in den Betrieben entstehen“, sagte Johannes Schmalzl, Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart. „Wir sind Verfechter der Selbstverwalter der Wirtschaft, wir haben hier die Kompetenz der ausbildenden Unternehmen und lehnen diese Wege ab.“
Hinzu komme, dass das Problem nicht der Ausbildungsplatzmangel, sondern der Bewerbermangel sei. „Bei solchen Modellen besteht so gut wie immer die Gefahr, dass Jugendliche marktferne Ausbildungen erhalten und ohne Job dastehen.“
Bewährt hat sich nach Meinung des BWIHK dagegen die Ausbildungsprämie, die der Staat während der Corona-Pandemie den Betrieben gezahlt hat, die an der Ausbildung festgehalten haben. „Wenn man erkennt, dass die berufliche Ausbildung ein Erfolgsfaktor ist, dann“, so erläuterte Schmalzl, „solle man überlegen, wie man das Engagement dafür honoriert.“