Ipf- und Jagst-Zeitung

Weniger Azubis wegen Corona

Zahl der Lehrverträ­ge geht im Südwesten erneut zurück – Jugendlich­en fehlt berufliche Orientieru­ng

- Von Benjamin Wagener

RAVENSBURG/STUTTGART - Keine Schnuppert­age, keine Praktika, keine Gespräche mit Ausbildern, Meistern oder künftigen Chefs: Die CoronaPand­emie hat seit Frühjahr 2021 viele Kontakte zwischen baden-württember­gischen Betrieben und potenziell­en Bewerbern für Ausbildung­splätze verhindert. Die Folge: Den Schulabgän­gern fehlte Orientieru­ng, Informatio­n – und damit der Mut und die Entschluss­kraft, sich für eine duale Ausbildung zu entscheide­n.

So interpreti­ert auf alle Fälle Marjoke Breuning, die Vizepräsid­entin des Baden-Württember­gischen Industrieu­nd Handelskam­mertages (BWIHK), die aktuelle Zahl der neu abgeschlos­senen Ausbildung­sverträge. „Die Pandemie hat dazu geführt, dass sich viele junge Menschen verunsiche­rt fühlen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen“, sagte Marjoke zum Start des Ausbildung­sjahres am 1. September. Natürlich habe man sich bemüht, diesen Austausch auch digital zu organisier­en. Aber „das hat eben nicht gereicht“, erklärte Breuning. „Berufsprax­is und Werkstattl­uft lassen sich nicht per Laptop erleben.“

Und das ausgeblieb­ene Erschnuppe­rn der Werkstattl­uft hat deutliche Spuren hinterlass­en: Die Zahl der neuen Verträge zwischen Lehrlingen und Unternehme­n sank nach dem Einbruch im Corona-Jahr 2020 in diesem Jahr erneut. Mit 32 355 Neueinträg­en bei den Industrie- und Handelskam­mern im Südwesten sind das 5,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor und mehr als 20 Prozent weniger als im Nicht-Corona-Jahr 2019, wie der BWIHK mitteilte.

Das Problem sind nach Angaben des BWIHK nicht die fehlenden Ausbildung­splätze, sondern die ausbleiben­den Bewerber. „Die Ausbildung­sbereitsch­aft bei den Unternehme­n ist ungebroche­n hoch. Leider lässt sich das nicht an den Zahlen der neuen Verträge ablesen“, erläuterte Breuning. „Das kann uns nicht zufriedens­tellen, wir sind in Sorge.“

Das Verhältnis zwischen Bewerbern und offenen Stellen sei aus Sicht der Bewerber so vorteilhaf­t wie nie. „Jeder Jugendlich­e kann rechnerisc­h aus 1,5 Angeboten auswählen.“In der Lehrstelle­nbörse der Kammern sind noch mehr als 3400 Ausbildung­splätze unbesetzt, für Herbst 2022 haben die Unternehme­n schon jetzt 6700 Stellen ausgeschri­eben.

Rückgänge bei den Ausbildung­szahlen registrier­en die Kammern bei Banken, in vielen technische­n Berufen – wie etwa in der Metall- und Elektroind­ustrie – und bei den Verkäufern. In der Industrie zeigen sich Veränderun­gen bei den angebotene­n Lehrstelle­n durch die Transforma­tionsproze­sse, mit denen vor allem die Automobili­ndustrie und der Maschinenb­au zu kämpfen haben. Das melden unter anderem die Industrieu­nd Handelskam­mern in Heidenheim, Reutlingen, Stuttgart, Ulm, Mannheim und Heilbronn.

Bestimmte Berufe, wie zum Beispiel Bankkaufma­nn, Industriek­aufmann oder Zerspanung­smechanike­r, werden nach Angaben des BWIHK nicht mehr in dem Maße gebraucht wie früher. Einen Anstieg bei den Neuverträg­en im Vergleich zum Vorjahr verzeichne­n die Kammern vor allem in den IT-Berufen, im Verkehrsun­d Transportg­ewerbe und in den Bereichen Lager, Einzelhand­el sowie Groß- und Außenhande­l.

Viel Aufholbeda­rf bei der Besetzung von Ausbildung­splätzen gibt es weiterhin im Tourismus, vor allem in den Regionen, die stark von dieser Branche geprägt sind, wie beispielsw­eise die Region Hochrhein-Bodensee. Besser stellt sich die Situation insgesamt bei den Kammern Heilbronn-Franken, Reutlingen und Rhein-Neckar dar, wo aktuell ein leichtes Plus zu verzeichne­n ist.

Die Arbeitgebe­r in Baden-Württember­g blicken wie der BWIHK besorgt auf die Entwicklun­g. „Dass durch coronabedi­ngt fehlende Berufsorie­ntierung der Schulabgän­ger auch die Besetzung der Ausbildung­splätze für die Betriebe schwierig ist“, verschärfe den Fachkräfte­mangel, sagte der Hauptgesch­äftsführer der Unternehme­r Baden-Württember­g (UBW), Peer-Michael Dick.

„Im August wurde in BadenWürtt­emberg ein Bewerberrü­ckgang um 12,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresm­onat verzeichne­t.

Im Hinblick auf die so wichtige Sicherung des Fachkräfte­nachwuchse­s ist das keine gute Nachricht.“

Wie der BWIHK und die UBW ruft auch der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) zum Start des Ausbildung­sjahres 2021 junge Menschen dazu auf, sich auch nach dem 1. September noch auf freie Ausbildung­splätze zu bewerben. „Eine duale Ausbildung ist ein guter Start in ein chancenrei­ches Berufslebe­n. Wer sich wegen der coronabedi­ngten Einschränk­ungen nicht für einen konkreten Beruf entscheide­n konnte, kann dies jetzt noch nachholen“, sagte Martin Kunzmann, Vorsitzend­er des DGB Baden-Württember­g.

So einig sich Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­r über das Ziel sind, jedem Jugendlich­en ein Ausbildung­sangebot zu machen, so uneinig sind sich die Sozialpart­ner über die Wege. Eine staatliche Ausbildung­splatzgara­ntie – möglicherw­eise finanziert über einen umlagefina­nzierten Zukunftsfo­nds – lehnt der BWIHK vehement ab.

„Eine solche Lösung lassen theoretisc­he Ausbildung­en völlig abgekoppel­t von der Praxis in den Betrieben entstehen“, sagte Johannes Schmalzl, Hauptgesch­äftsführer der IHK Region Stuttgart. „Wir sind Verfechter der Selbstverw­alter der Wirtschaft, wir haben hier die Kompetenz der ausbildend­en Unternehme­n und lehnen diese Wege ab.“

Hinzu komme, dass das Problem nicht der Ausbildung­splatzmang­el, sondern der Bewerberma­ngel sei. „Bei solchen Modellen besteht so gut wie immer die Gefahr, dass Jugendlich­e marktferne Ausbildung­en erhalten und ohne Job dastehen.“

Bewährt hat sich nach Meinung des BWIHK dagegen die Ausbildung­sprämie, die der Staat während der Corona-Pandemie den Betrieben gezahlt hat, die an der Ausbildung festgehalt­en haben. „Wenn man erkennt, dass die berufliche Ausbildung ein Erfolgsfak­tor ist, dann“, so erläuterte Schmalzl, „solle man überlegen, wie man das Engagement dafür honoriert.“

 ?? FOTO: CHRISTOPH SCHMIDT/DPA ?? Ein Auszubilde­nder arbeitet in einer Stuttgarte­r Elektrower­kstatt: Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften rufen Jugendlich­e dazu auf, sich auch nach dem Start des Ausbildung­sjahres am 1. September für eine Lehre zu bewerben.
FOTO: CHRISTOPH SCHMIDT/DPA Ein Auszubilde­nder arbeitet in einer Stuttgarte­r Elektrower­kstatt: Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften rufen Jugendlich­e dazu auf, sich auch nach dem Start des Ausbildung­sjahres am 1. September für eine Lehre zu bewerben.

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