Das Leben zurückbekommen
Für querschnittgelähmten Flüchtling Anas Al Khalifa ist der Start in Tokio schon ein Sieg
TOKIO (dpa) - Anas Al Khalifa war komplett durchnässt und durchgefroren. Und er wollte möglichst schnell zurück in sein Zimmer, zu seinem Handy. Er wollte versuchen, seine Familie in Syrien zu erreichen, um zu wissen, ob sie seine beiden Kanu-Läufe bei den Paralympics in Tokio haben sehen können. „Es ist schwer, weil wir in Syrien oft keinen Strom und kein Internet haben“, sagte der in Halle an der Saale lebende Flüchtling: „Zuletzt hatte ich vor einer Woche zu ihnen Kontakt.“Gesehen hat er seine Liebsten seit zehn Jahren nicht.
Zuvor musste der 28-Jährige aber zahlreiche Interviews geben. Alle wollten seine Geschichte hören. Sowohl mit dem Kajak als auch im Va’a – einem Auslegerkanu nach dem Vorbild von auf Tahiti genutzten Booten – war er Letzter im Vorlauf geworden, aber es war dennoch ein Happy End. „Ich bin sehr stolz auf mich“, sagte Anas Al Khalifa in sehr gutem Deutsch: „Ich habe auf jeden Fall mein Leben zurück.“
Das hatte es in den vergangenen Jahren oft nicht gut mit Anas Al Khalifa gemeint. Vor zehn Jahren floh er vor dem Krieg aus der Heimat. Er verbrachte zunächst zwei Jahre in einem Lager, dann zwei weitere als Obstpflücker in der Türkei, ehe er nach 31-tägiger Reise in einem überfüllten Boot über Griechenland nach Deutschland kam.
Dort arbeitete er als Handwerker und montierte Solarmodule. 2018 stürzte er in Magdeburg von einem Dach. „Es war nass und ich bin abgerutscht“, erzählte er im ZDF. „Als ich die Augen wieder geöffnet habe, standen Ärzte neben mir. Sie haben gesagt: ,Du hattest einen schweren Unfall, du kannst nicht mehr laufen.‘ Es war so, als wenn dir jemand ein Messer
Brüchle
Thomas
in dein Herz steckt. Ich war jung – und nun konnte ich nicht mehr arbeiten und nicht mehr laufen. Ich dachte, mein Leben ist vorbei. Zweimal wollte ich mich umbringen.“
Die ehemalige bulgarische Olympiateilnehmerin Ognjana Duschewa nahm ihn in Halle unter ihre Fittiche. „Ich sah einen starken Jungen im Rollstuhl mit sehr traurigen Augen“, berichtete
Lindau sie. Sie sagte ihm, sie werde ihn im Kanu nach Tokio bringen. Al Khalifa schaute sie fragend an: „Was ist ein Kanu? Was ist dieses Tokio? Und wieso soll ich da hin?“
Am Donnerstag startete er tatsächlich dort. Keine zwei Jahre, nachdem er erstmals in einem Sportboot saß und dauernd umkippte. Als sein älterer Bruder in Syrien erschossen wurde, war seine Motivation fast dahin. Doch dann kam der Trotz. „Ich will für meinen Bruder gewinnen“, sagte er. Dass er in Japan dabei war – als Starter des Flüchtlingsteams des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) –, ist für Anas Al Khalifa ein Sieg.
Der ihn weiter anspornt. „Ich habe hier viele Menschen gesehen, denen es schlimmer ging als mir, und die immer weiterkämpfen“, sagte er am Donnerstag. „Wenn ich diese Leute sehe, muss ich auch weiterkämpfen.“In Paris 2024 will Anas Al Khalifa wieder am Start sein. Vielleicht für das Flüchtlingsteam. Vielleicht für Deutschland. In jedem Fall will er Kanu fahren. Sein Boot sei für ihn wie seine Beine, sagte er. „Wenn ich im Boot sitze, fühle ich mich normal.“
Langfristig hofft Anas Al Khalifa auf eine Rückkehr in seine Heimat: „Wenn der Krieg beendet ist, möchte ich zurück. Weil ich dort geboren und aufgewachsen bin. Und weil dort meine Familie ist.“Die am Donnerstag wohl alles getan hat, um seinen großen Auftritt zu verfolgen.
Thomas Schmidberger und (Foto: dpa) haben die große Chance auf ihr erstes Tischtennisgold bei Paralympics vergeben. Durch ein 1:2 verloren die beiden querschnittgelähmten Athleten zum dritten Mal nacheinander im Endspiel des Teamwettbewerbs gegen China. Beim Stand von 1:1 schien der Sieg diesmal möglich, als die deutsche Nummer 1 Schmidberger gegen die chinesische Nummer 2 Xiang Zhai antrat und mit 2:0 Sätzen vorne lag. Doch der 29-jährige Düsseldorfer verlor noch mit 2:3 (11:7, 12:10, 4:11, 7:11, 4:11). „Wir sind einfach todesenttäuscht. Jetzt haben wir Silber, aber gerade fühlt es sich an wie der letzte Platz“, sagte der untröstliche Schmidberger. „Erst lief alles perfekt, dann lief gar nichts mehr. Ich habe keine Erklärung. Eine 2:0-Führung darf man in einem solchen Spiel, auf meinem Niveau, niemals aus der Hand geben.“
Brüchle versicherte, es gebe „gar keine Vorwürfe an Tom“. Schon 2012 in London und 2016 in Rio hatten Schmidberger und Brüchle jeweils das Finale gegen die Chinesen verloren. Schmidberger unterlag zudem in Rio und nun auch in Tokio im Einzelfinale gegen Panfeng Feng. Es ist somit seine fünfte Silbermedaille bei Paralympics. Im Doppel hatte das deutsche Duo zunächst Zhai und Feng mit 3:2 niedergerungen (11:8, 15:13, 4:11, 7:11, 11:9). Anschließend hielt der 45-jährige Brüchle aus Frickenhausen, in geboren, gegen Ausnahmespieler Feng gut mit, musste sich aber 1:3 (13:11, 3:11, 8:11, 9:11) geschlagen geben. (dpa)