Schönheit in der Hölle
Am 9. September vor 80 Jahren begann die deutsche Blockade von Leningrad – Das Leid und der Heldenmut der Millionenstadt fesselte und inspirierte von Anfang an auch die Künste
RAVENSBURG - 900 Tage. 900 Tage eines Lebens in der Hölle. Es war eine der fürchterlichsten Episoden des Zweiten Weltkriegs: Die Blockade von Leningrad. Sie dauerte zweieinhalb Jahre zwischen September 1941 und Januar 1944. An dieser Belagerung starben 1,2 Millionen Zivilisten. Neben Auschwitz ist Leningrad damit der Ort mit den meisten Toten der ganzen Kriegszeit.
Als am 22 Juni 1941 die deutsche Wehrmacht mit drei Heeresgruppen in einer Stärke von etwa 3.6 Millionen Mann die Grenze zur Sowjetunion überschritt, begann ein Vernichtungskrieg. Von Anfang an angelegt war in diesem Krieg das Überschreiten aller durch Kriegsrecht und Menschlichkeit gesetzten Grenzen.
Kein zweites Kapitel dieses fast vierjährigen Krieges zeigt dieses Ziel mit ähnlicher Deutlichkeit, wie die Belagerung von Leningrad. Eine 900tägige Blockade, die in der UdSSR zum Mythos wurde, ist in der Erinnerung der Deutschen verdrängt hinter den nationalen Melodramen „Stalingrad“, „General Winter“, und „Flucht und Vertreibung“.
Die Heeresgruppe
Nord der deutschen Wehrmacht sollte Leningrad jedenfalls nicht erobern, sondern sollte die
Stadt aushungern und ausbluten lassen. Man ließ sie militärisch links liegen, während man sich 1941 Moskau, 1942 dem Kaukasus und dann Stalingrad zuwandte.
Was aber tun mit Leningrad? Auf deutscher Seite skizzierte man abenteuerliche Lösungen: So wurde erwogen, die Stadt mit einem elektrischen Zaun abzuriegeln und US-Präsident Roosevelt zu ihrer Ernährung aufzurufen. Fest stand allein, dass ausreichende Belagerungsartillerie und Flugzeuge nicht verfügbar waren. Daraus resultierte eine der ältesten Blockade-Waffen überhaupt, die Aushungerung.
Die Belagerung von Leningrad dauerte vom 9. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Während dieser Zeit war die Stadt von den Deutschen umzingelt, die sie fortwährend bombardierten, mit Artillerie beschossen und alle Nachschubwege blockierten. Bereits am 22. September 1941 verzeichnet das Kriegstagebuch der 18. Armee: „Alle Vorbereitungen zum Besetzen und Ausnutzen der Stadt können eingestellt werden.“
Das Prinzip dieser Belagerung bestand also nicht darin, anzugreifen, sondern vor allem darin, zu warten. Abzuwarten, bis der Gegner in der Stadt erschöpft und ausgehungert ist, und sich dann ergibt. Letzteres geschah allerdings nicht, im Gegenteil: Die Invasoren mussten schließlich aufgeben.
Doch dieser Sieg der Sowjetunion, ein Sieg mehr der Bevölkerung als der Roten Armee und von unzähligen heldenhaften Episoden begleitet, kostete unzählige Tote auf russischer Seite, zwei Drittel davon unter der Zivilbevölkerung.
Immer noch eindrucksvoll ist hierfür Sergeij Loznitsas 2006 entstandener Dokumentarfilm „Blokada“. Er zeigt lose Szenen dieser zweieinhalb Jahre. Im Film geht es nicht um die Kriegshandlungen, obwohl sie am Rande vorkommen, sondern hauptsächlich um die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner. „Blokada“bedient sich dafür aus einer riesigen Fundgrube an historischem Archivmaterial von meist erstaunlich hoher Qualität, sowohl rein technisch als auch filmästhetisch. Alles wurde tatsächlich während der Belagerung gedreht – es wurde dann vom Filmemacher zu einem Ganzen zusammengeschnitten.
Ohne konkrete Zeitangaben ist der wesentliche Ereignisablauf dennoch gut nachzuvollziehen: Vorbereitungen, Aufbau der Artillerie, tiefe Gruben und Gräben die überall in der Stadt ausgehoben werden, Barrikaden, die überall aus schwerem Material errichtet werden, während das Leben zugleich fast wie gewohnt weitergeht. Anfangs sind die Straßen noch belebt. Und das ziemliche Verkehrsaufkommen entspricht jeder anderen europäischen Stadt der damaligen Zeit.
Dann beginnen die ersten Bombardements, danach die Artillerieangriffe, Gebäude stehen in Flammen. Wichtige Statuen werden vorsorglich abgebaut. Irgendwann müssen deutsche Kriegsgefangene durch die Stadt marschieren, bewacht von Soldaten auch vor der Bevölkerung. Die blickt neugierig, man sieht Angst wie Hass.
Einzelne Szenen sind kraftvoll und klar, die Chronologie allerdings hat das Kommando und bald wird „Blokada“zu einem einzigen Spektakel, einem Katastrophenfilm mit bekanntem Ausgang.
Auch auf deutscher Seite gibt es wichtige Dokumentarfilme. Thomas Kufus bald wieder beim „Salzgeber Verleih“verfügbarer Dokumentarfilm „Blockade“trug 1991 nach Öffnung der sowjetischen Archive und aus Privatsammlungen erstmals als einsehbaren Quellen und Dokumente zusammen.
Christian Freys und Carsten Gutschmidts Dokumentarfilm „Leningrad Symphonie“gibt besonders scharfsichtige Einblicke in die Extremsituationen von Akteuren der gegnerischen Lager innerhalb und außerhalb der Stadt. Der Film montiert Archivmaterial, Kommentare des Militärhistorikers Sönke Neitzel, Zeitzeugeninterviews und Spielszenen und umkreist ein legendäres, zentrales Ereignis: Die Entstehung und Leningrader Uraufführung von Dimitri Schostakowitschs 7. Symphonie zwischen Propagandaauftrag Stalins und innerparteilichen Fraktionen.
Die Komponistenfamilie wurde während der Arbeit an der Symphonie plötzlich nach Kuibyschew ausgeflogen. Umgekehrt wurde später die Partitur für den Radiodirigenten Karl Eliasberg in einer Nacht- und Nebelaktion nach Leningrad eingeflogen. Eliasberg selbst kämpfte ausgemergelt gegen den Hungertod. Statt 60 vorgesehener Musiker waren nur noch 13 da. Am Ende war die Leningrader Premiere der 7. Symphonie ein Triumph. Sie wurde bis heute zu einem Schlüsseldokument für Überlebensund Widerstandswillen.
Besonders wichtig: die Rolle dieses Radio-Mediums. Der Feind hörte mit, also musste für die Deutschen täglich in Vertuschungs- und Täuschungsreportagen die katastrophale
Situation in der Stadt schöngefärbt werden, um das deutsche Militär zu demotivieren. Zugleich musste die Verteidigung und Lebensmittelverteilung organisiert werden.
Olga Bergholz (1910-1975), eine glühende Kommunistin und Vertraute von Regimekritikern wie der Schriftstellerin Ana Achmatowa, schrieb 50 Jahre lang Tagebuch in ihrer Stadt. 1941 wurde sie zur öffentlichen Person: Während der Blockade war sie jeden Tag im Radio zu hören, kämpferisch und eindringlich. Für viele ihrer Landsleute war sie die Stimme dieser 900 Tage. Ein weiteres Schlüsseldokument ist die Versnovelle „Poem ohne Held“von besagter Anna Achmatowa (1889-1966). Es entstand 1941/42, wurde bis 1962 mehrfach überarbeitet.
Die tatsächlichen Grausamkeiten blieben auf beiden Seiten in der Kunst ausgespart: Selbst nach Hungerrationen kalkuliert, benötigte die Drei-Millionen-Stadt täglich 1000 Tonnen Lebensmittel nebst Nachschub an Munition und Benzin für die Verteidiger. Der magere Verkehr über Wasser und Luft lag aber unter ständigem Feindfeuer. So vermischten die Einwohner ihre Speise mit dem, was vorrätig blieb: Leim, Holz, Haustiere. Im Dezember 1941 gab es keine Vögel, Hunde und Katzen mehr zu sehen. Die Öl- und Kohlereserven waren bereits im September aufgebraucht.
Einen Monat später brach die Energieversorgung zusammen. In den nicht länger beheizten Wohnungen vereisten und zerbrachen alsbald die Wasser- und Abflussrohre. Der Schnee und das Wasser der Newa dienten als Trink- und Reinigungsflüssigkeit, verseucht von Ruhr und Typhuskeimen.
Über zwei Jahre später, am 27. Januar 1944, war die Blockade endgültig vorbei. Die „Blokadniki“, diejenigen, die die Blockade überlebten, mussten nach dem Krieg die Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf ein besseres und freieres Leben ertragen. Die stalinistische Repression verhinderte sogar die Aufarbeitung der Blockade, sodass erst in den vergangenen Jahren das Ausmaß des Leidens der Bevölkerung, zum Beispiel realistische Zahlen der Hungertoten, veröffentlicht werden konnten.