Warum braucht Deutschland Fachkräfte aus dem Ausland?
In einigen Branchen fehlen inzwischen so viele Arbeitskräfte, dass von einem „Notstand“die Rede ist, beispielsweise in der Altenpflege. Allein in diesem Bereich wären nach Berechnungen des Bremer Pflegewissenschaftlers Heinz Rothgang 120 000 zusätzliche Vollzeitstellen notwendig, um die Pflegebedürftigen in den Altenheimen adäquat zu versorgen. Aber die Gesundheitsbranche ist nicht die einzige mit Engpässen. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums mangelt es an Fachkräften auch im Maschinen- und Fahrzeugbau, in der Elektrotechnik, im IT-Bereich und im Handwerk.
Was wollte Deutschland mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz erreichen?
Das Ziel ist, mehr Fachkräfte aus Ländern außerhalb der Europäischen Union nach Deutschland zu holen. Dabei hat die Politik gut ausgebildete Arbeitskräfte im Fokus, die aber keine Akademiker sind. Für Fachkräfte mit Hochschulabschluss, gibt es seit knapp zehn Jahren die „Blaue Karte EU“. Um mehr Zuwanderer aus Drittstaaten in den deutschen Arbeitsmarkt zu bringen, hat die Große Koalition die sogenannte Vorrangprüfung abgeschafft. Das heißt, es muss nicht mehr geprüft werden, ob ein EU-Staatsbürger oder ein Deutscher für eine offene Stelle infrage kommt. Auch die Begrenzung auf Engpassberufe entfiel mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Darüber hinaus wurde eine Bleibeperspektive geschaffen für geduldete Menschen, die ein Arbeitsstelle haben.
War das Gesetz erfolgreich? Diese Frage zu beantworten ist nicht ganz einfach, weil einerseits konkrete Zahlen fehlen – und diese durch die Corona-Pandemie auch noch verfälscht sind. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden bis zum 30. Juni dieses Jahres 50 542 Erwerbsvisa an Fachkräfte und Auszubildende aus Drittstaaten erteilt. Wie viele von ihnen tatsächlich eingereist sind und eine Arbeitsstelle angetreten haben, ist unklar.
Was wird passieren, wenn zu wenige Zuwanderer kommen?
In diesem Fall fürchten Arbeitsmarktexperten um Wirtschaft und Wohlstand in Deutschland. Das Problem ist die Demografie. Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben Berechnungen angestellt, wie sich das „Erwerbspersonenpotenzial“hierzulande entwickeln wird, wenn keine Migranten nach Deutschland kommen. Ihr Resümee: Dann wird es schwierig auf dem Arbeitsmarkt. Bis zum Jahr 2060 könnte die Zahl der potenziellen Erwerbspersonen auf unter 40 Millionen sinken, wenn die Zuwanderung auf dem Niveau der vergangenen Jahre bliebe, heißt es in einem IAB-Papier. Dabei sei bereits vorausgesetzt, dass mehr Frauen und ältere Menschen noch länger arbeiten als bislang. Ohne Zuwanderung
wird die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte bereits bis 2035 um 7,5 Millionen sinken. Von rund 83 Millionen Menschen in Deutschland waren im Jahr 2018 rund 47 Millionen entweder erwerbstätig, erwerbslos oder Teil der sogenannten Stillen Reserve.
Hätte dieser Schrumpfkurs nicht auch Vorteile?
Nein, zumindest nicht mit Blick auf die Sozialversicherungssysteme. Vor allem das Rentensystem in Deutschland braucht Nachwuchs.
Im Jahr 2018 kamen laut IAB-Angaben auf 100 Arbeitskräfte im Alter von 20 bis 64 Jahren 42 Menschen im Rentenalter. 2035 werden es selbst im günstigsten Fall – bei 400 000 Zuwanderern und steigenden Erwerbsquoten – 57 Rentner auf 100 Arbeitskräfte sein. Auch die Beiträge zur Krankenversicherung werden massiv steigen, wenn sie auf den Schultern von zunehmend weniger jungen Arbeitskräften liegen.
Wie reagiert die Politik auf diese Entwicklung?
Mit welchen Vorschlägen gehen die Parteien in die Wahl?
Um den Bedarf an Fachkräften zu sichern, setzen CDU und CSU auf „den Zuzug gut ausgebildeter und leistungsbereiter Menschen aus den Mitgliedsstaaten der EU und aus außereuropäischen Staaten“. „Deutschland ist noch zu wenig Zielland für die klugen Köpfe der Welt“, heißt es im Wahlprogramm der Union. Um das zu erreichen, sollen unter anderem die Anerkennung von Abschlüssen und die Zertifizierung von Qualifikationen vereinfacht werden. Die SPD möchte allen Zugewanderten Integrations- und Beteiligungsangebote machen. Über ein Gesetz wollen die Sozialdemokraten die Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen regeln. Hürden bei der Einbürgerung sollen abgeschafft und die Regelaufenthaltsdauer von bisher acht Jahren verkürzt werden. Die Grünen und die FDP streben ein Einwanderungsgesetz an, das klarere Regeln schafft für Zugewanderte. Was beide Parteien verbindet, ist die Idee, Zuwanderung auch über Punkte zu steuern. Den Liberalen schwebt ein System nach kanadischem Vorbild vor, das auf den Qualifikationen des Bewerbers basiert. Die Linken sehen in der Zuwanderung eine Chance, die Altersstruktur in Deutschland zu verjüngen. Sie sprechen sich gegen eine „gezielte Abwerbung von qualifizierten Menschen im Ausland“aus und fordern eine verbesserte Ausbildung, Bezahlung und Arbeitsbedingungen „für alle Menschen“. Die AfD sieht im Fachkräftemangel ein Scheinargument für mehr Einwanderung. „Massenmigration“erzeuge Lohndruck und führe zu Konkurrenz um Sozialleistungen. Von Einwanderungsmodellen wie in Kanada und in Australien hält die Partei nichts, stattdessen fordert sie eine Begrenzung und Steuerung der Migration.