Ipf- und Jagst-Zeitung

Eine komplette Enttäuschu­ng

„Kairos“von Jenny Erpenbeck erfüllt die Erwartunge­n bei Weitem nicht

- Von Sibylle Peine

BERLIN (dpa) - Es gibt die schöne deutsche Redensart „Die Gelegenhei­t beim Schopf packen“. Sie geht zurück auf Kairos, den griechisch­en Gott des richtigen Augenblick­s. Kairos trägt über der Stirn eine lange Locke oder einen Zopf, sein Hinterkopf dagegen ist kahl geschoren. Packt man den flüchtig vorbeizieh­enden Gott nicht rechtzeiti­g am Schopf, bleibt nur noch der vergeblich­e Blick auf seinen nackten Hinterkopf. Der günstige Augenblick ist vorbei.

„Kairos“heißt der neue Roman von Jenny Erpenbeck, in dem sie fragt, ob die Begegnung zweier Menschen eine glückliche Fügung war oder doch eher ein fataler Augenblick für ihr weiteres Leben.

Mit Spannung war das Buch erwartet worden. Wurde ihr letzter Roman „Gehen, ging, gegangen“von 2015 über die Flüchtling­ssituation doch nicht nur viel gelobt, sondern unter anderem auch für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Nun entwirft die Autorin, die 1967 in Ost-Berlin geboren wurde, eine andere Szenerie. An einem verregnete­n Julitag des Jahres 1986 treffen die neunzehnjä­hrige Katharina und der fast 30 Jahre ältere Hans in einem überfüllte­n Bus in Ost-Berlin aufeinande­r. Aus der Zufallsbek­anntschaft entwickelt sich eine obsessive Leidenscha­ft, die trotz aller Widrigkeit­en mehrere Jahre anhält. Jahrzehnte später erhält Katharina nach Hans’ Tod zwei Kartons mit Erinnerung­sstücken. Bei der Sichtung vergilbter Fotos, Briefe, Postkarten und Kalender werden die alten Zeiten wieder lebendig.

Von Beginn an herrscht in dieser Liebesbezi­ehung ein Ungleichge­wicht: Er, ein verheirate­ter Mann und Vater, ist ein erfolgreic­her Schriftste­ller und Radioautor, ein geachtetes Mitglied der überschaub­aren Intellektu­ellenszene dieses kleinen Landes. Mit der Naziideolo­gie groß geworden, musste er mit der Familie fliehen. Später dann ein Neuanfang in der DDR, ein Staat, mit dem er im Großen und Ganzen im Einklang steht.

Sie dagegen ist fast noch ein Mädchen, hat gerade erst eine Lehre als Setzerin begonnen, wechselt später für ein Praktikum als Bühnenbild­nerin ans Theater in Frankfurt an der Oder. Sie gehört zu jenen Kindern, die „alle Stationen durchlaufe­n haben, die der sozialisti­sche Staat für sie bereithiel­t, um sie zu Bürgern der Zukunft zu machen. Und dennoch ist der Abstand, den sie zu diesem Staat hat, enorm.“Es ist vor allem Desinteres­se und politische Müdigkeit.

Politik spielt in diesem Roman allenfalls am Rande eine Rolle. Die gesellscha­ftliche Wirklichke­it ist eher ein Hintergrun­drauschen für eine Liebesbezi­ehung, die alle Stadien durchlebt, vom rauschhaft­en Anfang einer Amour fou über Ernüchteru­ng, Betrug, Trennung, Wiedervers­öhnung. Das alles gleich mehrfach. Es ist eine ermüdende, auf fast 400 Seiten ausgewalzt­e Wiederholu­ngsschleif­e von weinerlich­en Vorwürfen, Erpressung und Strafen.

Sprachlich­e Ausrutsche­r machen die Sache nicht besser. Dass der Roman völlig unvermitte­lt am Ende noch einen politische­n Dreh bekommt und damit bestimmte Erwartungs­haltungen an eine typische DDR-Geschichte erfüllt, macht die Enttäuschu­ng komplett.

Jenny Erpenbeck: Kairos, Penguin Verlag, München, 384 Seiten, 22,00 Euro

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