Gruseliges Geschöpf entpuppt sich als Spinnenläufer
Der kleine Räuber aus dem Mittelmeerraum profitiert von der Klimaerwärmung – Exemplar auf der Ostalb gesichtet
ELLWANGEN - Schreck, lass nach. Da rennt ein Viech mit viel zu vielen dünnen, langen Beinen am Körper in irrem Tempo an der Wand lang. Und zwar drinnen, in der Wohnung. Eh man sich’s versieht, ist es in der Ritze hinterm Schrank verschwunden. Und jetzt? Hilft Aufklärung. Denn das vermeintlich gruselige Geschöpf kann ganz nützlich sein. Es ist ein Spinnenläufer.
Der Spinnenläufer gehört zu den Hundertfüßern und ist somit weder ein Insekt (denn die haben nur sechs Beine) noch eine Spinne (mit bekanntlich acht ebensolchen). Darüber klärt die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) auf. Stattdessen wartet das Wesen mit gleich 30 Beinen auf: je 15 zu beiden Seiten seines länglichen Körpers. Damit kann es schneller unterwegs sein, als seinem Betrachter lieb ist. Es legt bis zu einem halben Meter in einer Sekunde zurück und gehört damit zu den schnellsten Gliederfüßern überhaupt.
Eigentlich sollte es „Scutigera coleoptrata“auf der Ostalb gar nicht geben, die Art ist im Mittelmeerbereich zuhause. Und die untere Naturschutzbehörde beim Landratsamt (uNB) weiß auch noch gar nichts von dem Zugereisten. „Bei der uNB gingen bisher noch keine Anfragen zu dieser Art ein“, informiert Lena Kümmel vom Landratsamt. Doch: „Seit einigen Jahren gibt es plausible Meldungen, dass die Art sich stetig nach Norden ausbreitet“, sagt Dr. Joachim Holstein vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart.
Laut dem Wissenschaftler ist der Spinnenläufer eine wärmeliebende Art, die vom Klimawandel profitiert. Aus Baden-Württemberg sei sie schon vor einigen Jahrzehnten unregelmäßig gemeldet worden. Nachforschungen hätten dann meist ergeben, dass kurz vor dem Fund jemand vom Campingurlaub aus dem Mittelmeerraum zurückgekehrt war und er das Tier mit der Campingausrüstung mitgebracht hatte. Die ersten Belege wurden 1934 in Freiburg gesammelt.
Seit einigen Jahren aber breite sich der Spinnenläufer entlang wärmebegünstigter linearer Biotope wie zum Beispiel Bahndämmen aus. Die meisten Nachweise konzentrierten sich den Rhein abwärts über Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt, Koblenz, Köln und Essen nach Norden. In Stuttgart werde der nachtaktive Räuber inzwischen regelmäßig gesichtet, sogar an und im Gebäude des Naturkundemuseums sei er anzutreffen. „Spinnenläufer benötigen in den Wintermonaten frostsichere Refugien. Im Freiland halten sie sich daher nur in den wärmebegünstigten Regionen des Rheintals beziehungsweise im Kaiserstuhlgebiet“, so der Experte vom Naturkundemuseum. Andernorts können sie in Gebäuden Schutz finden und so überwintern.
Offensichtlich tut mindestens ein Exemplar das nun auf der Ostalb, zum anfänglichen Grausen seines ahnungslosen Gastgebers. „Die Anwesenheit der Art in und an Gebäuden wird von vielen Menschen durch die langen Beine und schnellen Laufbewegungen als unangenehm wahrgenommen“, bestätigt Simone
Zehnder von der Landesanstalt für Umwelt.
Bis zu 15 Zentimeter lang kann ein Spinnenläufer werden, wenn man vom hintersten Beinpaar über den etwa drei Zentimeter langen, gestreiften Körper bis zu den extrem langen Antennen misst, die ihm als Tastorgan dienen. Dazu kommen die Mundwerkzeuge mit zwei kräftigen Giftklauen. Mit ihnen schaffen es die Spinnenläufer, die menschliche Haut zumindest an dünnen Stellen zu durchdringen, wie ein Pastor im badischen Kehl 2016 wohl feststellen musste. Weil er beim Aufstehen aus Versehen barfuß auf das Tier trat, biss ein Spinnenläufer ihn in den großen Zeh. Zwei Giftklauen, zwei Einstiche: Das sei schmerzhaft, vergleichbar mit einem Wespenstich,
aber nicht gefährlich. Es „können wie bei anderen Insektenbissen oder -stichen auch Hautirritationen oder leichte Schmerzen auftreten“, berichtet das Landratsamt. Auch allergische Reaktionen könnten nicht ganz ausgeschlossen werden. Man sollte also besser nicht versuchen, den Mitbewohner mit der Hand einzufangen.
Im Internet kursieren die wildesten Tipps, wie man dem bizarren Hausgenossen denn dann zu Leibe rücken könnte. Mit doppelseitigem Klebeband oder Haarspray zum Beispiel. Der beste Tipp: Freundschaft schließen, wie es die mediterranen Weinbauern tun. Denn der als Einzelgänger auftretende Spinnenläufer zähle zu den „effektiven und erfolgreichen Schädlingsvertilgern“, betont auch Lena Kümmel vom Landratsamt. Zu seinen Beutetieren gehören Bettwanzen, Kakerlaken, Silberfische, Asseln, Fliegen oder Steckmücken – und damit all die
Tierchen, die man so gar nicht gern im Haus hat.
„Blitzartig schlägt er mit seinen Giftklauen zu und injiziert Gift in die Beute“, ist in einem Artikel des Naturschutzbunds über den Spinnenläufer zu lesen. Das Opfer werde gelähmt, das Innere ausgesaugt. Nur die leere Chitinhülle bleibe zurück. „Noch während er seine Beute verspeist, kann er mit seinen langen Hinterbeinen bereits das nächste Opfer festkrallen“, so der Nabu. Vor dem Menschen mache er sich dagegen lieber schnell aus dem Staub – zum Beipiel hinter den nächsten Schrank oder in den feuchten Keller. Auf Youtube ist ein Video aus Weil am Rhein zu finden. Der Spinnenläufer, der darauf zu bewundern ist, heißt Speedy und lebt bei Siegfried R. H. Hartmeyer. „Wir mögen unseren Speedy, dafür hält er das Haus weitgehend ungezieferfrei“, schreibt Herr Hartmeyer. Er wohne hinterm Bilderrahmen. Na denn.