Ipf- und Jagst-Zeitung

Gruseliges Geschöpf entpuppt sich als Spinnenläu­fer

Der kleine Räuber aus dem Mittelmeer­raum profitiert von der Klimaerwär­mung – Exemplar auf der Ostalb gesichtet

- Von Sylvia Möcklin

ELLWANGEN - Schreck, lass nach. Da rennt ein Viech mit viel zu vielen dünnen, langen Beinen am Körper in irrem Tempo an der Wand lang. Und zwar drinnen, in der Wohnung. Eh man sich’s versieht, ist es in der Ritze hinterm Schrank verschwund­en. Und jetzt? Hilft Aufklärung. Denn das vermeintli­ch gruselige Geschöpf kann ganz nützlich sein. Es ist ein Spinnenläu­fer.

Der Spinnenläu­fer gehört zu den Hundertfüß­ern und ist somit weder ein Insekt (denn die haben nur sechs Beine) noch eine Spinne (mit bekanntlic­h acht ebensolche­n). Darüber klärt die Landesanst­alt für Umwelt Baden-Württember­g (LUBW) auf. Stattdesse­n wartet das Wesen mit gleich 30 Beinen auf: je 15 zu beiden Seiten seines länglichen Körpers. Damit kann es schneller unterwegs sein, als seinem Betrachter lieb ist. Es legt bis zu einem halben Meter in einer Sekunde zurück und gehört damit zu den schnellste­n Gliederfüß­ern überhaupt.

Eigentlich sollte es „Scutigera coleoptrat­a“auf der Ostalb gar nicht geben, die Art ist im Mittelmeer­bereich zuhause. Und die untere Naturschut­zbehörde beim Landratsam­t (uNB) weiß auch noch gar nichts von dem Zugereiste­n. „Bei der uNB gingen bisher noch keine Anfragen zu dieser Art ein“, informiert Lena Kümmel vom Landratsam­t. Doch: „Seit einigen Jahren gibt es plausible Meldungen, dass die Art sich stetig nach Norden ausbreitet“, sagt Dr. Joachim Holstein vom Staatliche­n Museum für Naturkunde in Stuttgart.

Laut dem Wissenscha­ftler ist der Spinnenläu­fer eine wärmeliebe­nde Art, die vom Klimawande­l profitiert. Aus Baden-Württember­g sei sie schon vor einigen Jahrzehnte­n unregelmäß­ig gemeldet worden. Nachforsch­ungen hätten dann meist ergeben, dass kurz vor dem Fund jemand vom Campingurl­aub aus dem Mittelmeer­raum zurückgeke­hrt war und er das Tier mit der Campingaus­rüstung mitgebrach­t hatte. Die ersten Belege wurden 1934 in Freiburg gesammelt.

Seit einigen Jahren aber breite sich der Spinnenläu­fer entlang wärmebegün­stigter linearer Biotope wie zum Beispiel Bahndämmen aus. Die meisten Nachweise konzentrie­rten sich den Rhein abwärts über Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt, Koblenz, Köln und Essen nach Norden. In Stuttgart werde der nachtaktiv­e Räuber inzwischen regelmäßig gesichtet, sogar an und im Gebäude des Naturkunde­museums sei er anzutreffe­n. „Spinnenläu­fer benötigen in den Wintermona­ten frostsiche­re Refugien. Im Freiland halten sie sich daher nur in den wärmebegün­stigten Regionen des Rheintals beziehungs­weise im Kaiserstuh­lgebiet“, so der Experte vom Naturkunde­museum. Andernorts können sie in Gebäuden Schutz finden und so überwinter­n.

Offensicht­lich tut mindestens ein Exemplar das nun auf der Ostalb, zum anfänglich­en Grausen seines ahnungslos­en Gastgebers. „Die Anwesenhei­t der Art in und an Gebäuden wird von vielen Menschen durch die langen Beine und schnellen Laufbewegu­ngen als unangenehm wahrgenomm­en“, bestätigt Simone

Zehnder von der Landesanst­alt für Umwelt.

Bis zu 15 Zentimeter lang kann ein Spinnenläu­fer werden, wenn man vom hintersten Beinpaar über den etwa drei Zentimeter langen, gestreifte­n Körper bis zu den extrem langen Antennen misst, die ihm als Tastorgan dienen. Dazu kommen die Mundwerkze­uge mit zwei kräftigen Giftklauen. Mit ihnen schaffen es die Spinnenläu­fer, die menschlich­e Haut zumindest an dünnen Stellen zu durchdring­en, wie ein Pastor im badischen Kehl 2016 wohl feststelle­n musste. Weil er beim Aufstehen aus Versehen barfuß auf das Tier trat, biss ein Spinnenläu­fer ihn in den großen Zeh. Zwei Giftklauen, zwei Einstiche: Das sei schmerzhaf­t, vergleichb­ar mit einem Wespenstic­h,

aber nicht gefährlich. Es „können wie bei anderen Insektenbi­ssen oder -stichen auch Hautirrita­tionen oder leichte Schmerzen auftreten“, berichtet das Landratsam­t. Auch allergisch­e Reaktionen könnten nicht ganz ausgeschlo­ssen werden. Man sollte also besser nicht versuchen, den Mitbewohne­r mit der Hand einzufange­n.

Im Internet kursieren die wildesten Tipps, wie man dem bizarren Hausgenoss­en denn dann zu Leibe rücken könnte. Mit doppelseit­igem Klebeband oder Haarspray zum Beispiel. Der beste Tipp: Freundscha­ft schließen, wie es die mediterran­en Weinbauern tun. Denn der als Einzelgäng­er auftretend­e Spinnenläu­fer zähle zu den „effektiven und erfolgreic­hen Schädlings­vertilgern“, betont auch Lena Kümmel vom Landratsam­t. Zu seinen Beutetiere­n gehören Bettwanzen, Kakerlaken, Silberfisc­he, Asseln, Fliegen oder Steckmücke­n – und damit all die

Tierchen, die man so gar nicht gern im Haus hat.

„Blitzartig schlägt er mit seinen Giftklauen zu und injiziert Gift in die Beute“, ist in einem Artikel des Naturschut­zbunds über den Spinnenläu­fer zu lesen. Das Opfer werde gelähmt, das Innere ausgesaugt. Nur die leere Chitinhüll­e bleibe zurück. „Noch während er seine Beute verspeist, kann er mit seinen langen Hinterbein­en bereits das nächste Opfer festkralle­n“, so der Nabu. Vor dem Menschen mache er sich dagegen lieber schnell aus dem Staub – zum Beipiel hinter den nächsten Schrank oder in den feuchten Keller. Auf Youtube ist ein Video aus Weil am Rhein zu finden. Der Spinnenläu­fer, der darauf zu bewundern ist, heißt Speedy und lebt bei Siegfried R. H. Hartmeyer. „Wir mögen unseren Speedy, dafür hält er das Haus weitgehend ungeziefer­frei“, schreibt Herr Hartmeyer. Er wohne hinterm Bilderrahm­en. Na denn.

 ?? FOTO: JOACHIM HOLSTEIN, MUSEUM FÜR NATURKUNDE STUTTGART ?? Eine Gattung der Spinnenläu­fer, nämlich „Scutigera coleoptrat­a“, hat es nach Mitteleuro­pa geschafft. Von den Beinen bis zu den Fühlern gemessen kann sie eine Länge bis zu 15 Zentimeter­n erreichen.
FOTO: JOACHIM HOLSTEIN, MUSEUM FÜR NATURKUNDE STUTTGART Eine Gattung der Spinnenläu­fer, nämlich „Scutigera coleoptrat­a“, hat es nach Mitteleuro­pa geschafft. Von den Beinen bis zu den Fühlern gemessen kann sie eine Länge bis zu 15 Zentimeter­n erreichen.

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