Der Mensch in Grenzsituationen
Leutkirch und Kißlegg würdigen das Werk des 2019 verstorbenen Künstlers Raimund Wäschle
LEUTKIRCH/KISSLEGG - Er gehört zu den wichtigsten Künstlern, die Oberschwaben hervorgebracht hat: Raimund Wäschle, geboren 1956, gestorben 2019. Gleich drei Ausstellungen – im Gotischen Haus in Leutkirch und in der benachbarten Galerie im Kornhaus sowie im Schauraum und Kabinett Huber in Kißlegg – erinnern an ihn. Breiter, retrospektiver war Wäschles riesiges Werk zu Lebzeiten nie zu sehen. Die Fülle seiner Themen, die den Menschen in Grenzsituationen zeigt, beeindruckt. Themen, die Tod und Leben, Einsamkeit, Liebe, Gewalt umkreisen. Zudem weisen ihn seine Radierungen als großen Meister der Radierkunst aus.
Die Trias beginnt im Gotischen Haus in Leutkirch, einem aus dem 14. Jahrhundert stammenden Gebäude und damit einem der ältesten überhaupt in Süddeutschland. Es ist denkmalgeschützt und weitgehend im Original erhalten, an sich schon eine Besichtigung wert. Jetzt hängen dort an jahrhundertealten, rissigen und schrundigen Wänden großformatige Bilder, als wären sie eigens dafür gemalt. Nur einzelne Bilder im Raum, werden manche Kabinette geradezu zu religiösen Räumen, die zur Meditation einladen. Zwei Großformate, ganz in Gold gemalt mit sparsamer Strukturierung, ragen heraus. Und in einem der Räume hängt ein Bild, das bei ungenauer Betrachtung aussieht, als wäre es von Gerhard Richter gemalt. Es offenbart sich aber, aus der Nähe besehen, als eine sehr selbstständige Arbeit. Raimund Wäschle kratzte Strukturen in die mehrschichtige Bildtafel. Zerstörung statt Schönheit, Ästhetik, Harmonie. Das Gefällige war seine Welt nicht.
Der frühere Kißlegger Rektor Anton Schmid, einfühlsamer Redner bei unzähligen Wäschle-Ausstellungen und wohl bester Kenner seines Werkes, schrieb einmal über seinen Freund: „Mittels seiner Bilder warf er Fragen auf, die jede und jeden angehen: Leid und Tod, Gewalt und Tortur, Schmerz und Bedrückung, Entfremdung und Abgeschiedenheit. Er zeigte das Menschsein als Wandeln auf schmalem Grat, gefährdet, bedroht und oft nur schwer auszuhalten.“
Die drei Ausstellungen sind in der engen Zusammenarbeit des Leutkircher Galeriekreises, Wolfgang Huber vom Kißlegger Schauraum, der jungen Kuratorin Atessa Sonntag und Viviane Wäschle, der Schwester des Künstlers, zu verdanken. Wäschles Werk weist weit über eine regionale Bedeutung hinaus, betont KarlAnton Maucher, Leiter des Fachbereichs Kultur der Stadt Leutkirch. Das gilt ganz gewiss für die Radierkunst Wäschles, die er vor allem bei einem Lehrer an der Kunstakademie Stuttgart, Professor Rudolf Schoofs, erlernt. Doch Wäschle hat die Kunst der Radierung weiterentwickelt, perfektioniert. Wäschle experimentierte ständig. Radierung, Ätzradierung, Photoätzung, Chine collé, Monotypie, Corborundum – auf all diese Techniken verstand er sich meisterhaft. Seine grafischen Blätter werden über seinen frühen Tod hinaus Bestand haben.
Das alles lässt sich in großer Fülle im ebenfalls historischen Leutkircher Kornhaus sehen, in den beiden
Dachgeschossen dieser städtischen Galerie. 50 grafische Blätter und einige stark farbige in Mischtechnik, die meisten ohne Titel.
Wäschle war sehr belesen. Er kannte vor allem Kafka, Celan, Wolfgang Borchert, Schriftsteller, die eher den dunklen Kräften des Lebens verbunden waren, Nietzsche auch. Und so ergab es sich, dass er all diesen Literaten zum Teil umfangreiche Serien vor allem auf Papier widmete, vieles in Form der Radierung. Da dominiert die Farbe Schwarz.
Wer die beiden Wäschle-Ausstellungen in Leutkirch besucht hat, sollte unbedingt nach Kißlegg weiterfahren, wo Wolfgang Huber einen Schauraum für Kunst geschaffen und im Jahre 2020 um ein Kabinett vergrößert hat mit geradezu idealen, lichterfüllten Räumen. Wolfgang Huber ist eigentlich Flaschnermeister, aber kunstinteressiert und kunstkundig wie wenige, und er war Raimund Wäschle seit langem eng verbunden. Die insgesamt 81 Arbeiten, die Wolfgang Huber in seinem Schauraum zeigt, markieren gewiss einen Höhepunkt dieser drei Wäschle Ausstellungen.
Am Eingang zum Schauraum Huber hängt eine kleine Tuschearbeit, die ihm Raimund einmal geschenkt hat, eine Arbeit aus dem Jahr 1975, als Wäschles noch studierte. Schon damals aufgerissene Köpfe wie später, als der Kopf, Zentrum allen Lebens, im Werk Wäschle eine große Rolle spielen sollte. Ein fast gänzlich schwarzes Bild, Kreuzigung genannt, zeigt, wie nahe Raimund Wäschle dem großen italienischen Maler Cimabue war und wie sehr er es verstand, daraus etwas ganz Eigenes zu machen. Daneben ein Kreuz, das Antoni Tàpies nicht besser hätte malen können. Ein Bild aus dem Jahr 1978 – ein Baby auf einem Berg von Leichen – zeigt, wie sehr Raimund Wäschle sich schon früh mit der Shoah auseinandergesetzt hat.
Das wohl beeindruckendste Bild ist ein Triptychon, 4,5 Meter breit, vulgo Knochen-Bild genannt; gebrochene Knochenteile, Frakturen, äußerst different und transparent gemalt. Ein absoluter Höhepunkt in Wäschles Schaffen, ähnlich jenem Riesen-Tuch („Christus seitlich“), das er im Jahre 2003 in der Alten Kirche in Mochenwangen zeigte, vier Meter hoch.
Wäschle hat seit Jahrzehnten Plastiken gemacht, viel Religiöses, aber auch ganz abstrakte Arbeiten. Sie spielen, von Hubers Kunstraum abgesehen, in dieser Retrospektive eher eine untergeordnete Rolle. Sie wären aber eine eigene Ausstellung wert.
Bis 16. Oktober, Öffnungszeiten in Leutkirch: täglich außer Dienstag 14 bis 17 Uhr, am Montag und Donnerstag 10 bis 12 Uhr. Schauraum Huber in Kißlegg (Schloßstraße 58/1): Do., Sa., So. 14 bis 17 Uhr. Führungen durch die Ausstellungen am 19. September und 10. Oktober, in Kißlegg
(14 Uhr) und Leutkirch, Gotisches Haus (15.30 Uhr)
Lesung: Texte von Kafka, Celan und Borchert am 2. Oktober, 16 Uhr, im Schauraum Huber. Anmeldung für die Führung und Lesung unter info@flaschnereihuber.de