Maßlose Kritik hat Folgen
Der tödliche Angriff von IdarOberstein macht betroffen und wütend. Wütend auch deswegen, weil der Todesschütze sich mit der Erklärung zu rechtfertigen versuchte, er habe sich durch die Corona-Verordnungen „in die Ecke gedrängt“gefühlt. Dass Täter sich zum Opfer erklären und so Verständnis für ihre Taten erheischen wollen, ist sattsam bekannt, zeugt von verstörender Selbstgerechtigkeit und darf nicht hingenommen werden.
Die Aussage zeigt aber auch auf dramatische Weise, welche Folgen der Wahn haben kann, in den sich ein kleiner, lauter Teil der Bevölkerung hineingesteigert hat. Die selbst ernannten Querdenker haben zu einer Radikalisierung beigetragen. Es entstand ein irritierendes Amalgam aus Esoterikern, Verschwörungsgläubigen und Staatsfeinden aller Art. Rechtsextremisten befeuern die Stimmung, weil es ihnen in die Hände spielt, wenn der demokratische Rechtsstaat in Zweifel gezogen wird.
Das Problem ist nicht die Kritik an einzelnen Corona-Maßnahmen oder auch an der Strategie der Pandemiebekämpfung insgesamt. Das Problem ist die Maßlosigkeit der Kritiker. Man unterstellt der Regierung, sie wolle die Freiheitsrechte ganz grundsätzlich abschaffen, mit der Pandemie als vorgeschobenem Argument. Man träumt vom Staatsstreich oder wähnt sich bereits im Dritten Weltkrieg.
Das mag wahnhaft wirken, lässt aber auch eine Strategie erkennen: Wann, wenn nicht im Krieg oder in Abwehr finsterster Kräfte, wäre Gewalt ein legitimes Mittel? Der Täter von Idar-Oberstein mag ein Einzeltäter gewesen sein, doch die Tat fand nicht im luftleeren Raum statt. Je schriller die Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen, desto eher wird sich jemand dazu berufen fühlen, den Worten Taten folgen zu lassen. Wer sagt, Corona-Kritik und die Schüsse auf einen jungen Tankstellenkassierer seien doch zwei völlig unterschiedliche Dinge und hätten rein gar nichts miteinander zu tun, sollte sich mal in den einschlägigen digitalen Netzwerken umschauen. Dort wird der Täter von Idar-Oberstein bereits als Held gefeiert.