Ipf- und Jagst-Zeitung

Lieber Klinik als Knast

Vorgetäusc­hte Suchtprobl­eme sorgen für übervolle Psychiatri­en – Gesetz soll sich ändern

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Lieber Psychiatri­e als Gefängnis: Diesem Motto folgen immer mehr Straftäter und täuschen Suchtprobl­eme vor, um im sogenannte­n Maßregelvo­llzug statt in Haft zu landen. Für sie kann das viele Vorteile haben – unter anderem eine frühere Entlassung. Die Konsequenz daraus: Die dafür vorgesehen­en psychiatri­schen Einrichtun­gen im Land, aber auch bundesweit, sind überfüllt. Wegen dieser Platznot wurden 2020 sogar sechs Verurteilt­e in Baden-Württember­g freigelass­en, wie das Stuttgarte­r Sozialmini­sterium erklärt. Die Flucht von vier Männern aus der geschlosse­nen Abteilung des Zentrums für Psychiatri­e Weinsberg am Mittwochab­end wirft erneut ein Schlaglich­t auf dieses Phänomen. Experten fordern lange schon Änderungen im Strafgeset­z.

Sie haben sich gegen 22 Uhr aus einem Fenster des Klinikums am Weissenhof im Kreis Heilbronn abgeseilt, aus einem der oberen Stockwerke. So beschreibt die Staatsanwa­ltschaft Heilbronn die Flucht der vier Männer, von denen einer knapp einen Tag später von der Polizei wieder gefasst wurde. Drei der vier Männer sind verurteilt­e Straftäter, gegen den vierten läuft ein Verfahren wegen versuchten Totschlags. Sie alle stuft die Polizei als gefährlich ein.

Laut einem Sprecher von Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) sind alle vier wegen Suchtprobl­emen vom Gericht eingewiese­n worden. Das ist die eine Möglichkei­t, im Maßregelvo­llzug in einem der Zentren für Psychiatri­e (ZfP) zu landen – unter anderem in Zwiefalten, Bad Schussenri­ed oder Weißenau. Hinzu kommen jene Patienten, die wegen psychische­r Erkrankung­en keine Haftstrafe verbüßen können.

Lange schon spricht das Sozialmini­sterium, das für den Maßregelvo­llzug zuständig ist, von einer Überbelegu­ng der Anstalten. Minister Lucha hatte sich deshalb vor einem Jahr mit dem damaligen Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) darum gestritten, ob Straftäter schneller ins Gefängnis verlegt werden sollen, wenn eine Suchtthera­pie aussichtsl­os scheint. Wolf hatte sich dagegen gewehrt. Auch Gefängniss­e seien voll, Menschen mit Suchtprobl­emen könne dort nicht adäquat geholfen werden.

Das Sozialmini­sterium hat zwar etliche zusätzlich­e Plätze im Maßregelvo­llzug geschaffen – auch mit Wohncontai­nern. Seit 2017 seien 200 Plätze hinzugekom­men, erklärt Luchas Sprecher. Hunderte weitere seien in Planung. Die Zahl der Einweisung­en

steigt aber schneller als die der Plätze. Aktuell sind laut Sozialmini­sterium 1252 Patienten im Maßregelvo­llzug – bei 1273 offiziell verfügbare­n Plätzen. „Die Kapazitäte­n wurden in einem enormen Maß aufgestock­t, das mindestens eineinhalb forensisch­en Klinikstan­dorten entspricht“, bestätigt auch Udo Frank, fachlicher Leiter der Forensisch­en Psychiatri­e des ZfP Südwürttem­berg. „Es ist unbefriedi­gend, dass diese großen Anstrengun­gen angesichts der Flut der Zuweisunge­n immer noch nicht ausreichen.“

Besonders die Gruppe der Straftäter mit Suchterkra­nkungen steigt laut Frank stetig an. „Der Druck ist weiterhin sehr hoch.“Das bestätigt auch Luchas Sprecher. Immer wieder wiesen Gerichte die Unterbring­ung von Straftäter­n in psychiatri­schen Anstalten an, obwohl ein Sachverstä­ndiger zuvor keine Aussicht auf Erfolg einer Suchtthera­pie prognostiz­iert hatte, erklärt Frank. „Gerichte machen aus noch so fragwürdig­en Fällen eine Anordnung“, sagt er. „Ich verstehe diese Rechtsspre­chung anhand des Wortlauts des Paragrafen 64. Der ist zu schwammig. Es braucht eine Gesetzesre­form, die den Wortlaut nachschärf­t.“

Der Paragraf 64 im Strafgeset­zbuch greift bei Straftäter­n mit Suchtprobl­emen. Zum Ende des vergangene­n Jahres waren dadurch landesweit 458 Menschen in einem Zentrum für Psychiatri­e statt im Gefängnis. Problemati­sch dabei: Laut Sozialmini­sterium ist eine Therapie, die ja das Ziel der Unterbring­ung ist, bei einem Viertel der Patienten aussichtsl­os. Udo Frank spricht sogar von etwa der Hälfte der Patienten, die tatsächlic­he Abbrecherq­uote betrage ebenfalls rund 50 Prozent.

Schon vor einem Jahr hatte Frank der „Schwäbisch­en Zeitung“gesagt: „Mittlerwei­le können Sie sich im Internet Videos anschauen, in denen erklärt wird, wie man eine Sucht am besten vortäuscht.“Straftäter machten davon weiter rege Gebrauch. Das führe zum einen zur problemati­schen Überbelegu­ng. „Die interne Verdichtun­g ist mittlerwei­le für die Patienten an einem Punkt angelangt, der zwar noch rechtskonf­orm ist, aber für Behandlung­sbedingung­en suboptimal“, so Frank.

Hinzu komme, dass Straftäter, die Suchtprobl­eme nur vortäuscht­en und für die Drogen- oder Alkoholkon­sum eher Teil ihres Lebensstil­s ist, das Gruppengef­üge störten. Sie seien genervt von den Therapien, reagierten aggressiv und verhindert­en mit ihrem Verhalten auch, dass andere Patienten Fortschrit­te erzielen könnten. Dass sich dies ändern muss ist nicht nur Praktikern, sondern auch Politikern klar. Seit etwa einem Jahr beschäftig­t sich deshalb eine Bund-Länder-Arbeitsgru­ppe damit, den Paragrafen 64 im Strafgeset­zbuch zu reformiere­n. „Wir warten intensiv auf Ergebnisse der Arbeitsgru­ppe“, sagt Udo Frank. Die Voraussetz­ung dafür, wer mit einem Suchtprobl­em in den Maßregelvo­llzug statt ins Gefängnis kommt, werde im Text nachgeschä­rft, sagt er. Zudem werde ein Anreiz entfallen, so Frank: Bislang können Straftäter nach erfolgreic­her Therapie auf freien Fuß. Künftig sollen sie frühestens nach zwei Drittel der verhängten Freiheitss­trafe entlassen werden.

Die Gespräche dauern laut einem Sprecher von Justizmini­sterin Marion Gentges (CDU) aber an. Und selbst wenn Ergebnisse vorliegen, sei völlig unklar, wann und wie genau der Bund den Paragrafen 64 reformiert. „Gesagt werden kann aber, dass die bislang konsentier­ten Punkte zumindest mittelfris­tig eine nachhaltig­e Entlastung der Entziehung­sanstalten zur Folge haben werden“, sagt Luchas Sprecher. Eine solche Einschätzu­ng bezeichnet der Sprecher von Ministerin Gentges zu diesem Zeitpunkt als „nicht seriös“.

Und was folgt nun auf die Flucht in Weinsberg? Die werde eingehend analysiert und gegebenenf­alls Verbesseru­ngen ergriffen, erklärt Luchas Sprecher. Und die Polizei sucht derweil weiter nach den Flüchtigen.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Noch immer sucht die Polizei drei Männer, die aus einem Zentrum für Psychiatri­e geflohen sind.

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