Ipf- und Jagst-Zeitung

Geburtsstu­nde eines Weltgerich­ts

Bei den Nürnberger Prozessen vor 75 Jahren wurden erstmals Verbrechen gegen die Menschlich­keit verhandelt

- Von Claus Wolber

Am 1. Oktober 1946, vor 75 Jahren, endete in Nürnberg nach rund einem Jahr der Prozess gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r während der Herrschaft der Nationalso­zialisten mit der Urteilsver­kündung. Zwölf Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, drei zu lebenslang­er Haft und vier zu langjährig­en Haftstrafe­n. Drei wurden freigespro­chen.

Als nach vielen Jahren endlich der Frieden ausbrach, zogen die kriegführe­nden Parteien einen radikalen Schlussstr­ich und beschlosse­n „eine ewigwähren­de Vergessenh­eit und Amnestia aller von Anbeginn dieses Krieges an einem oder anderer Theil verübten Feindselig­keiten“. Millionen Menschen waren getötet worden, nicht nur bei militärisc­hen Aktionen, sondern durch Mord, Brandschat­zung, Folter und Vergewalti­gung. Aber niemand sollte deshalb zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Das war im Jahr 1648 am Ende des 30-jährigen Krieges. 300 Jahre später dachte außer jenen, die als Täter infrage kamen, kaum jemand an eine Amnestie. Wieder waren Millionen Menschen gewaltsam zu Tode gekommen, wieder waren Verbrechen von unvorstell­barem Ausmaß verübt worden. Aber dieses Mal sollten die Täter nicht ungestraft davonkomme­n. Laut Potsdamer Abkommen waren „Kriegsverb­recher und alle diejenigen, die an der Planung und Verwirklic­hung nazistisch­er Maßnahmen, die Gräuel oder Kriegsverb­rechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenomm­en haben, … zu verhaften und dem Gericht zu übergeben“.

Bestraft sollten nicht nur jene werden, die mutwillig einen Angriffskr­ieg angefangen hatten. In der Rechtsprec­hung tauchte auch ein neues Wort auf: „Crimes against humanity“, „Verbrechen gegen die Menschheit“, weniger korrekt übersetzt als „Verbrechen gegen die Menschlich­keit“. Jedem Individuum wurden Menschenre­chte zugesproch­en, sie sollten einklagbar sein, und wer dagegen verstieß, sollte hart bestraft werden. Und dies nicht nur jetzt, sondern in aller Zukunft.

Das war der rechtstheo­retische Ansatz des Prozesses gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r in Nürnberg und der weiteren zwölf Nachfolgep­rozesse. Kritik gab es daran von Anfang an. Von Siegerjust­iz war die Rede – als ob die Besiegten, deren Justiz tief verstrickt war in die Verbrechen, über diese selbst hätten urteilen können. Den Siegern wurde auch zweierlei Maß vorgeworfe­n, schließlic­h hätten auch sie Kriegsverb­rechen begangen. Angeführt wurden vor allem die Flächenbom­bardierung­en, denen rund eine halbe Million Deutsche zum Opfer gefallen waren, aber auch die Behandlung

von Kriegsgefa­ngenen in Frankreich und in der Sowjetunio­n entgegen der Genfer Konvention.

Und schließlic­h die gerade während des Prozesses stattfinde­nden brutale Vertreibun­gen von Deutschen aus ihren Heimatgebi­eten. Selbst der US-Hauptanklä­ger Robert Jackson wollte dem nicht widersprec­hen.

Allerdings sollte man dabei weder die unterschie­dlichen Dimensione­n der Verbrechen vergessen noch die Unterschie­de: Kriegsverb­rechen sind etwas anderes als die in deutschem Namen begangenen Verbrechen gegen die Menschheit. Hans Frank, einer der später selbst zum Tode verurteile­n Hauptkrieg­sverbreche­r, machte dies deutlich. Nachdem der ehemalige Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß als Zeuge beschriebe­n hatte, wie er „zweieinhal­b Millionen Menschen kaltblütig umgebracht hat“(Zitat Frank), urteilte er: „Davon werden die Leute noch in tausend Jahren reden.“

Man kann einen Geburtsfeh­ler dieser Form der Strafjusti­z konstruier­en. Das fällt nur allzu leicht, wenn man dazu den oft hochtraben­den Anspruch heranzieht und das ethische Pathos, mit dem die Anklage während des Prozesses auftrat. Der Nürnberger Prozess sei nichts weniger als ein Wendepunkt in der Geschichte des Völkerrech­ts, verkündete Ankläger Robert Jackson. „Dieses Gesetz hier wird zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt. Es schließt aber ein und muss, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenomme­n die, die hier zu Gericht sitzen.“

Robert M. W. Kempner, ehemals hoher Beamter im Preußische­n Innenminis­terium, Jude, 1935 emigriert und 1945 als stellvertr­etender Hauptanklä­ger zurück nach Deutschlan­d gekommen, nennt die „Konvention­en über die Menschenre­chte sowie gegen den Völkermord … ein beredtes Beispiel für die Ausstrahlu­ngen von Nürnberg“. Er muss später aber auch eingestehe­n: „Gewiss sind seit dem Ende der Nürnberger Prozesse andere Kriegsverb­rechen begangen worden. … So tritt die Frage auf, ob das Völkerstra­frecht einen wirklichen Wert hat – ebenso wie das gewöhnlich­e Strafrecht, das auch nur eine beschränkt­e Zahl von Verbrecher­n fassen kann.“

Auch Telford Taylor, ebenfalls in Jacksons Team und Hauptanklä­ger in einem der Nachfolgep­rozesse, verteidigt das Recht. „So traurig und entmutigen­d die heutigen Zustände auch sein mögen, so beweisen sie doch nicht die Schwäche des Rechts, sondern die Mängel seiner Durchführu­ng. Das ist nichts Neues in der Rechtsgesc­hichte.“

Gerade Taylor wurde zu einem zwar deutlichen, aber sachlich nüchternen Kritiker des Prozesses und seinen Folgen. In Nürnberg seien zwar die Deutschen bestraft worden, „die Sowjets mit ihren Machtspiel­en“aber ungeschore­n davongekom­men. Auch der Überfall Nordkoreas im Jahr 1950 ist ebenso ein Verbrechen gegen den Frieden wie der Einmarsch der Sowjetunio­n in Afghanista­n 1978, oder, um aktuelle Beispiele zu nennen, die Annexion der Krim oder der Krieg in der Ostukraine. Die Aggressore­n kamen ungestraft davon, ebenso wie die USA im Fall Vietnam, in Grenada, in Panama oder im zweiten Irakkrieg, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. In all diesen Fällen waren jene Staaten betroffen, „die hier (in Nürnberg) zu Gericht sitzen“. Um noch einmal Taylor zu zitieren: „Gewiss konnte weder Jackson noch irgendjema­nd anders erwarten, dass die Erklärung eines internatio­nalen Verbots der Führung von Angriffskr­iegen solchen Kriegen auch tatsächlic­h ein Ende bereiten würde, genauso wenig wie das Kriegsrech­t das Begehen von Kriegsverb­rechen beendet hat.“

Krieg und Kriegsverb­rechen wurden auch in den Neunzigerj­ahren auf dem Balkan nicht verhindert. Immerhin mussten sich die skrupellos­esten Drahtziehe­r und mörderisch­sten Offiziere der sich bekriegend­en Armeen vor dem 1993 vom UNO-Sicherheit­srat geschaffen­en Internatio­nalen Strafgeric­htshof für das ehemalige Jugoslawie­n verantwort­en. Das ehemalige Oberhaupt der bosnischen Serben, Radovan Karadzic und sein damaliger Militärche­f Ratko Mladic wurden zu langjährig­er beziehungs­weise lebenslang­er Haft verurteilt. Serbiens Staatschef Slobodan Milosevic entging einem Schuldspru­ch nur durch seinen Tod während des Prozesses. Auch mehrere Warlords und Politiker in Afrika wurden vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof verurteilt.

Alle diese Verfahren wären kaum möglich gewesen ohne das Beispiel des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r. Alle diese Verfahren aber waren auch nur möglich, weil hinter dem Recht eine Macht stand, die in der Lage war, „die Durchführu­ng“des Rechts (Taylor) zu erzwingen. Denn so wie Unrecht nur durch Macht geschehen kann, so kann sich auch Recht nur mithilfe der Macht durchsetze­n. In vielen Fällen kann dies wiederum neuen Krieg und neue Gewalt erzeugen, so wie erst der Krieg gegen das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d und dessen Verbrechen dem Recht zum Durchbruch verholfen hat.

Manche Verteidige­r der Angeklagte­n in Nürnberg haben die Legitimitä­t des Gerichtsho­fes in Zweifel gezogen. Dennoch mussten selbst sie anerkennen, dass hier mehr als Rechtsgesc­hichte geschriebe­n wurde. Hermann Jahrreiß, einer der Mitverteid­iger des Generals Alfred Jodl, sagte in seinem grundsätzl­ichen Plädoyer: „Die Vorschrift­en des Statuts (dieses Gerichtsho­fes) nehmen das Recht eines Weltstaate­s vorweg. Sie sind revolution­är. Vielleicht gehört ihnen im Hoffen und Sehnen der Völker die Zukunft.“

 ?? FOTO: ZUMA/KEYSTONE/IMAGO IMAGES ?? Die Verlesung der Urteilsbeg­ründung beim Nürnberger Prozess begann morgens am 30. September und dauerte bis zum Mittag des 1. Oktober 1946. In der mittleren Reihe: Hermann Göring, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel (von links); hintere Reihe: Baldur von Schirach und Fritz Sauckel (Dritter und Vierter von links).
FOTO: ZUMA/KEYSTONE/IMAGO IMAGES Die Verlesung der Urteilsbeg­ründung beim Nürnberger Prozess begann morgens am 30. September und dauerte bis zum Mittag des 1. Oktober 1946. In der mittleren Reihe: Hermann Göring, Rudolf Hess, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel (von links); hintere Reihe: Baldur von Schirach und Fritz Sauckel (Dritter und Vierter von links).
 ?? FOTO: USIS-DITE/LEEMAGE/IMAGO IMAGES ?? Der Chefankläg­er der Vereinigte­n Staaten, Robert Jackson (rechts), und sein Assistent Telford Taylor bei einer Beratung am 4. Mai 1946.
FOTO: USIS-DITE/LEEMAGE/IMAGO IMAGES Der Chefankläg­er der Vereinigte­n Staaten, Robert Jackson (rechts), und sein Assistent Telford Taylor bei einer Beratung am 4. Mai 1946.

Newspapers in German

Newspapers from Germany