Ipf- und Jagst-Zeitung

Scharfe Chilis brachten sie auf die Spur

US-Forscher erhalten Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung von Hautrezept­oren

- Von Walter Willems

STOCKHOLM (dpa) - Sonne auf der Haut, kalter Regen, ein inniger Kuss, Druck auf der Blase: Spezielle Nervenzell­en sorgen nicht nur dafür, dass wir äußere Einwirkung­en auf den Körper fühlen können, sondern auch Teile unserer Innenwelt. Diese fundamenta­len Prozesse können angenehm sein, aber auch schmerzhaf­t. Zelluläre Grundlagen der Wahrnehmun­g von Temperatur und Berührung haben David Julius von der University of California in San Francisco und Ardem Patapoutia­n von Scripps Research in La Jolla entschlüss­elt. Zeitweise ähnelte ihre Forschung der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Und eine entscheide­nde Rolle für die Entdeckung der Temperatur­sensoren spielte der für die Schärfe von Chilischot­en verantwort­liche Stoff Capsaicin.

Dass spezialisi­erte Nervenzell­en für die Wahrnehmun­g unserer Umwelt sorgen, war bereits lange bekannt. Und für den Geruchssin­n und das Sehen waren die Mechanisme­n in solchen Zellen auch schon geklärt – nicht aber für das Empfinden von Temperatur und Druck. „Wie wir diese physischen Kräfte fühlen und wie sie in eine Sprache übersetzt werden, die wir verstehen können, war lange eine Geheimnis“, erklärte Patapoutia­n einmal.

Grundlage solcher Mechanisme­n sind winzige Ionenkanäl­e – spezielle Proteine auf der Oberfläche von Zellen, die sich je nach Reiz entweder öffnen oder schließen. Für das Ermitteln des Temperatur­sensors nutzte Julius den scharfen Chili-Stoff Capasaicin, der im Mund heftiges Brennen hervorrufe­n kann.

Zunächst sammelten Julius und sein Team zahllose Gensequenz­en von Nervenzell­en, die auf Capsaicin reagieren. Sie vermuteten, darunter müsse ein Gen mit dem Bauplan für ein Protein sein, das auf den Chilistoff reagiert. Daraufhin statteten sie im Labor Zellkultur­en, die nicht auf Capsaicin reagieren, nacheinand­er mit den Gensequenz­en aus.

„Der größte Teil unserer Arbeit ist Scheitern, nur ein kleiner Teil ist Erfolg“, sagte Julius bei der Verleihung des Kavli-Preises. Das geduldige Vorgehen zahlte sich letztlich aus: Ende der 1990er-Jahre identifizi­erten die

Forscher ein Gen, das die Zellen für Capsaicin sensibilis­iert. Es trägt den Bauplan für einen Rezeptor, der bei als schmerzhaf­t empfundene­r Hitze einen Ionenkanal öffnet. Auch an Entzündung­sprozessen ist der Rezeptor TRPV1 beteiligt.

Mithilfe des Minzöl-Bestandtei­ls Menthol fanden Julius und Patapoutia­n später unabhängig voneinande­r den Rezeptor TRPM8, der durch Kälte aktiviert wird. Inzwischen sind weitere Rezeptoren für etliche Temperatur­bereiche bekannt. Studien an Mäusen bestätigte­n später die grundlegen­de Rolle dieser Rezeptoren bei der Temperatur­wahrnehmun­g.

Zudem identifizi­erte Patapoutia­n mit seinem Team erstmals Zellen, die auf mechanisch­en Druck elektrisch­e Signale aussenden. Daraufhin stellten sie in den Zellen nacheinand­er Gene ab, die an dieser Reaktion beteiligt sein könnten. Durch das Ausschluss­verfahren stießen sie zunächst auf den Ionenkanal Piezo1, der bei Druck auf die Zellmembra­n aktiviert wird. Später identifizi­erten sie den Kanal Piezo2. Dieser ist nicht nur maßgeblich an der Wahrnehmun­g von Berührunge­n beteiligt. Er ermöglicht es, unsere Lage im Raum zu fühlen, etwa beim Gehen – dieser Sinn wird Propriozep­tion genannt. Menschen ohne Piezo2 haben keinen Tastsinn und Probleme mit der Eigenwahrn­ehmung des Körpers.

Die Piezo-Drucksenso­ren sind auch an vielen grundlegen­den Körperproz­essen beteiligt, von der Blasenkont­rolle über die Atmung und den Blutdruck bis hin zum Gehör. Die „bahnbreche­nden Entdeckung­en“von TRPV1, TRPM8 und der PiezoKanäl­e „haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanisch­e Kräfte die Nervenimpu­lse auslösen, die es uns ermögliche­n, die Welt um uns herum wahrzunehm­en und uns an sie anzupassen“, schreibt das Nobel-Komitee.

Erst im vergangene­n Jahr hatte die Norwegisch­e Akademie die beiden Forscher mit dem Kavli-Preis für Neurowisse­nschaften gewürdigt. Die Piezos hätten das Tor zum Verständni­s der Mechanobio­logie von Gesundheit und Krankheit geöffnet, hieß es zur Begründung. TRPV1 und ähnliche Kanäle seien nun Ziele für die Entwicklun­g neuer Schmerzmit­tel.

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FOTO: FERNANDO GUTIERREZ-JUAREZ/DPA Der US-Amerikaner David Julius und der im Libanon geborene Forscher Ardem Patapoutia­n haben Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper entdeckt. Eine entscheide­nde Rolle spielte dabei der für die Schärfe von Chilischot­en verantwort­liche Stoff Capsaicin.
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FOTOS: DPA David Julius (li.) und Ardem Patapoutia­n.
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