Banges Warten auf das Betretungsverbot
Zwei Monate nach Start der Impfpflicht dürfen noch alle ungeimpften Pflegekräfte arbeiten
STUTTGART - Pflegekräfte haben das Urteil aus Karlsruhe als Schlag ins Gesicht empfunden: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist mit dem Grundgesetz vereinbar, hatte das Bundesverfassungsgericht am Donnerstag geurteilt. Pflegeeinrichtungen in der Region pochen dennoch auf ihr Ende – zumindest so lange, bis sie für alle gilt. Ein Betretungsverbot hat zwei Monate nach Start der Pflicht landesweit wohl noch kein Gesundheitsamt verhängt.
Aktuelle Zahlen dazu, wie viele Beschäftigte im Gesundheitssektor keinen ausreichenden Immunschutz haben, gibt es nicht. Das Sozialministerium verweist auf Zahlen vom April, an denen sich kaum etwas geändert haben dürfte, so ein Sprecher von Sozialminister Manfred Lucha (Grüne). Damals hatten 5622 Unternehmen etwa 32 000 Beschäftigte ohne Immunschutz gemeldet.
Seitdem hat sich aber viel getan. Meldungen zu Mitarbeitern müssten stetig aktualisiert werden, weil ihr Genesenenstatus ausläuft, sie sich mit Corona infiziert hatten und nun als genesen gelten, oder weil sich einige noch impfen lassen, sagt Ulrich Dobler von der Stiftung Liebenau. „Auch Letzteres beobachten wir erfreulicherweise regelmäßig.“Das Gesundheitsamt Ravensburg berichtet von rund einem Drittel der ursprünglich gemeldeten 1400 Fälle, für die inzwischen Nachweise eingegangen seien, so eine Sprecherin.
Die 38 Gesundheitsämter im Land müssen jeden Einzelfall verfolgen. Zunächst werden die Beschäftigten aufgefordert, einen Nachweis zu erbringen. Passiert das nicht, folgt eine Anhörung. „Dabei können die betroffenen Personen ihre Lage, Beweggründe und Auswirkungen, die ein Beschäftigungsverbot mit sich bringen würde, darlegen“, erklärt Susanne Haag-Milz, Leiterin des Gesundheitsamts im Sigmaringer Landratsamt. Parallel werden auch deren Arbeitgeber angehört. Erst danach können die Ämter Bußgelder verhängen, Betretungs- oder Tätigkeitsverbote aussprechen, oder „mildere Maßnahmen wie Testpflichten, Maskenpflicht, eingeschränkte Verbote“oder ähnliches anweisen, so HaagMilz. So weit ist es nach Wissen der Kommunalverbände, des Ministeriums und der befragten Gesundheitsämter bislang nirgendwo gekommen.
Wie weit die Ämter sind, ist von Kreis zu Kreis sehr unterschiedlich, sagt etwa Harald Blocher von der Stiftung St. Franziskus, die Einrichtungen zur Behindertenhilfe sowie
Altenheime etwa im Raum Tuttlingen betreibt. Mitunter seien auch die Arbeitgeber zur Stellungnahme aufgefordert worden, bestätigt Dobler von der Stiftung Liebenau. „Prinzipiell setzen wir uns in den Verfahren für die Weiterbeschäftigung aller Mitarbeitenden ein“, sagt er.
Dass es dauert, bis die Ämter Betretungsverbote verhängen, liege an deren Belastung, erklären die Kommunalverbände. „Tatsächlich müssen die Gesundheitsämter bereits seit nun fast drei Jahren stark priorisieren“, erklärt eine Sprecherin des Städtetags. Laut Landkreistag haben sie beim Land zusätzliches Personal beantragt – eine Entscheidung stehe aber noch aus. Manche Ämter haben schon Personal angestellt, viele andere haben Mitarbeiter aus anderen Bereichen abgezogen. Trotzdem sei fraglich, ob alle Fälle bis zum Auslaufen
des Gesetzes zum Jahresende bearbeitet werden könnten, hatte der Vorstandsvorsitzende der BadenWürttembergischen Krankenhausgesellschaft, Heiner Scheffold, jüngst der „Schwäbsichen Zeitung“gesagt. „Dadurch stellt sich noch mal die Frage nach dem Sinn dieser Pflicht.“
Landkreistagspräsident Joachim Walter (CDU) stimmt ihm zu. Er plädiert für „eine Aussetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht“, die das Land per Bundesratsinitiative vorantreiben soll. Beifall gibt es dafür aus den Pflegeeinrichtungen. „Wenn die allgemeine Impfpflicht nicht kommt, muss auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht zurückgenommen werden“, erklärt Christian Metz von der St. Elisabeth-Stiftung mit Hauptsitz in Bad Waldsee. Sein Kollege Dobler von der Stiftung Liebenau plädiert für eine erneute Debatte um eine allgemeine Impfpflicht. „Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung einen erneuten Vorstoß hierfür unternehmen sollte.“
Dieses Ziel verfolgt auch Minister Lucha. Mit seinen Amtskollegen aus Hessen und Bayern startet er einen neuen Anlauf für eine allgemeine Impfpflicht ab 60 Jahren. Darüber wollen die Gesundheitsminister in ihrer Konferenz Ende Juni beraten – und womöglich einen Antrag an die Gesetzgeber im Bund richten.
An der Teilimpfpflicht will Lucha nämlich nicht rütteln, wie er auf Nachfrage erklärt. „Gleichzeitig muss man noch einmal betonen, dass es bei dem Gesetz darum geht, die verletzlichsten und gefährdetsten Menschen in den medizinischen Einrichtungen zu schützen.“Nur mit einem ausreichenden Impfschutz in der Bevölkerung könnten die nächsten Infektionswellen im Herbst und Winter bewältigt werden. Der Städtetag unterstützt diesen Weg, wie die geschäftsführende Vorständin Gudrun Heute-Bluhm in Bezug auf das Gerichtsurteil vom Donnerstag erklärt. „Wir teilen diese Auffassung uneingeschränkt und tun alles dafür, dass die Verfahren möglichst schnell abgeschlossen werden.“
Unter den Pflegekräften wachse derweil das Unverständnis darüber, dass nur sie im Fokus stehen, erklärt Dobler. „60 000 am Wochenende im Fußballstadion ohne Maske – in Pflegeheimen bestehen jedoch weiterhin strikte Vorgaben: allerdings nur für die Mitarbeitenden und nicht für die vulnerablen Personen oder deren Angehörige.“Bei vielen erzeuge das ein Gefühl, wonach sie „die Folgen einer verkürzt gedachten Pandemiepolitik allein schultern müssen“. Metz von der St. Elisabeth-Stiftung warnt: „Wenn Betretungsverbote ausgesprochen werden, müssen wir Angebote einschränken.“Dann müssten mehr Menschen zuhause betreut werden. Er verweist auf die jüngste Studie des Sozialverbands VdK, wonach sich ein Drittel der Angehörigen aber schon jetzt bei der Pflege überfordert fühlten.
Rückendeckung erfahren die Einrichtungen vom Landkreistag. „Die einseitige Impfverpflichtung allein für die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen ist hochgradig unfair und droht infolge von Abwanderungen den ohnedies schon grassierenden Fachkräftemangel weiter zu verschärfen“, erklärt Hauptgeschäftsführer Alexander von Komorowski. Davor hatte auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor einigen Wochen gewarnt. „Die Gefahr ist, dass wir in diesem ganzen Bereich Leute verlieren.“