Die unbesiegte Stadt
Die Menschen in Kiew trotzen ihrer Angst – Einsamkeit und Trauer verbergen sich in der Hauptstadt der Ukraine hinter Lebenslust
KIEW - Jogger drehen an einem Sonntagmorgen in aller Frühe ihre Runden auf dem Maidanplatz in Kiew. Die Frühlingssonne sticht bereits ins Auge und viele tragen Sonnenbrillen unter ihren Stirnbändern. Die Jogger weichen Barrieren aus Metall und Beton und dem Haufen Sandsäcken vor dem Eingang zur Metro aus, als gehöre der Slalom zu ihrem Trainingsparcours. Es ist einiges los für einen Sonntagmorgen in einer Stadt im Krieg. Junge Leute sitzen an einer Bushaltestelle und gähnen, als hätten sie gerade einen Club verlassen. Dabei herrscht Ausgangssperre in Kiew nach 23 Uhr. Das Nachtleben steht still.
Sirenen schrillen plötzlich über den Platz. Ihr Ton durchdringt messerscharf das Bild einer in sonntäglicher Ruhe erwachenden Stadt und geht unter die Haut. Doch niemand erhebt sich von der Bushaltestelle und hastet ein paar Meter an den Sandsäcken vorbei zum Eingang der Metro. Die Jogger halten ihre Geschwindigkeit, als würde der Alarm sie nicht stören. Nur ein paar Tauben fliegen vom Lärm irritiert davon. Dann ist der Spuk vorbei und der Maidan wieder ein ruhiger Ort, der am frühen Morgen in der Sonne glänzt.
Die Kiewer scheinen nach zweieinhalb Monaten Krieg ihren Umgang mit den russischen Raketen gefunden zu haben. Manche sagen, er bestünde darin, sich nicht mehr im Alltag von Alarmsignalen stören zu lassen und blind auf die Luftabwehr zu vertrauen. Die Behörden veröffentlichen auf den sozialen Medien immer drastischere Mahnungen, den Sirenenton ernst zu nehmen und doch bitte einen Schutzraum aufzusuchen. Bars, Cafés und Straßen leeren sich aber nicht, wenn das Warnsignal erklingt. Ein Grund könnte sein, dass sich die Zahl der Alarme seit Beginn des Krieges nach dem russischen Abzug aus den Vororten von Kiew Ende März drastisch verringert hat. Ertönten die Sirenen noch Anfang März im Takt von 30 Minuten, schweigen sie nun manchmal den ganzen Tag. Die Russen hätten anderes zu tun, als Kiew zu terrorisieren, heißt es allenthalben.
Sobald der Sirenenton erklingt, gelte es, genau hinzuhören, meint eine Kiewerin bei einem Gespräch in einem Café. „Hörst du einen Knall, dann hat unsere Luftabwehr die Rakete in der Luft erwischt und alles ist in Ordnung. Ist dagegen ein leises Zischen in der Luft, befindet sich die Rakete im Anflug, dann gehst du am besten ins Badezimmer oder einen Gang, wo es keine Fenster gibt“, erklärt sie. Sei außer dem Geheule der Sirenen gar nichts zu hören, führe die Flugbahn das Geschoss weg von der Stadt. Die Gefahr sei gleich null, fügt sie hinzu. Das sei in den letzten Wochen der Normalfall gewesen. „Wenn ich gerade im Bus sitze und nur Sirenen höre, stehe ich nicht auf und renne irgendwohin“, sagt sie.
Eine russische Rakete traf Ende April während des Besuches des UN-Generalsekretärs António Guterres zum letzten Mal ein Ziel in der Hauptstadt. Für die Kiewer scheint das schon eine halbe Ewigkeit her zu sein. Einige Kilometer vom Maidan entfernt im Bezirk Obolon im Norden von Kiew schläft die 13-jährige
Nastia Ratuschny noch am späten Vormittag auf der Pritsche in einem Luftschutzbunker. Ihr Vater Valentin huscht um das provisorische Bett herum. Er wolle keine Fragen beantworten, um seine Tochter nicht zu stören, meint er. Die Freiwillige Nadiya Govorun vermutet, dass der Vater nicht über seine Ängste reden möchte. Sie nennt die Familie Ratuschny „Langzeitbewohner“.
„Sie kommen jede Nacht, obwohl es viel ruhiger geworden ist. Der Vater behauptet, es sei bloß wegen der Tochter, die zu Hause nicht schlafen könne“, sagt Govorun. Nicht alle Menschen in Kiew ignorieren also die Gefahr aus der Luft. Manchen sitze die Panik der Bombennächte noch so in den Knochen, dass sie sich in regelrechte Höhlenbewohner verwandelt hätten, meint Govorun. Jene, die von der Bedrohung nichts mehr wissen wollten, stellten allerdings die Mehrheit dar. „Einige reden schon davon, wie es damals im Krieg war. Sie meinen die Zeit bis Ende März, als die Russen vor Kiew standen“, sagt sie. Govorun unterrichtet an einer Hochschule Englisch. Sie gibt Onlinekurse und verbringt jede freie Minute in dem Luftschutzbunker. Freiwillige wie sie knüpfen dort aus Fäden und Plastikstreifen Tarnnetze für die Armee und sammeln Spenden für Zivilisten in den Städten nahe der Front.
Govorun betreut seit dem Beginn des Krieges am 24. Februar den Luftschutzbunker unter einer Bücherei in dem Wohnbezirk von Kiew. Bis zu 100 Menschen aus dem über der Bücherei liegenden Plattenbau und umliegenden Gebäuden hätten in dem Archiv der Bücherei zwischen Regalen voller angestaubter Literatur sowie in den Gängen auf Matratzen Platz gefunden. „Man glaubt es nicht, wie viele Menschen, die noch nie ein Buch in der Hand hatten, hier angefangen haben, zu lesen“, meint Govorun.
Sie führt durch ihr leicht nach Moder riechendes Reich. Eine nach
Beginn des russischen Angriffs eilig durchbrochene Mauer verbindet das Archiv mit einem benachbarten Keller. „Dort gibt es einen Notausgang“, erklärt sie. Leitungsrohre führen an der Decke entlang zu einem Raum mit Waschmaschinen, einer Kochnische sowie Toiletten. Zwei WC´s in einem Bunker voller Menschen, denen die Anspannung auf die Blase drückte, seien einen Segen gewesen. Ebenso die Tatsache, dass im Bezirk nie der Strom ausfiel. „Bei uns saß niemand im Dunkeln“, sagt Govorun.
Die Pädagogin stellt einen Bezug her zwischen den Panikattacken der hier Schutzsuchenden in den Bombennächten im Februar und März und der Sehnsucht nach einer Imitation normalen Lebens im Mai. Sie habe in vielen Nächten entscheiden müssen, auf wen sie beruhigend einsprach und wen sie auch mal mit scharfen Worten hinwies, sich zusammenzunehmen. Ihre Katze Glafira sei ihr eine Hilfe gewesen, da sie jederzeit zum Schmusen oder für
Streicheleinheiten bereit gewesen sei. „Sie war quasi meine Assistenzkatze“, sagt Govorun. Es sei psychologisch nachvollziehbar, die erschöpfte Seele nun aufatmen zu lassen durch Ablenkung. „Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, wir sind immer noch mitten im Krieg “, meint die Freiwillige.
Trotzdem zeigt sich das Aufatmen in Kiew eindrucksvoll an vielen Orten in der Stadt. Eine Eisverkäuferin wirbt vor dem Dessertladen „Honey“an der Yaroslaw-dem-WeisenStraße unweit des Goldenes Tors und der Sophienkathedrale für selbstgemachtes Eis am Stil mit SalzKaramell-Kruste. Gäste halten vor einer Bar auf der gegenüberliegenden Seite am späten Nachmittag an Stehtischen ihre Negroni-Gläser in der Hand. Junge Paare sitzen auf Bänken und halten sich mit Zärtlichkeiten nicht zurück. Sommer liegt auch im Szeneviertel Podil mit seinen Kneipen, Künstlerateliers und Wänden voller Graffiti in der Luft. Barrieren aus Sandsäcken finden sich in einigen Straßen, direkt dahinter auf den Gehwegen aber schon die ersten Bierbänke. Mitte März eröffneten zunächst die Friseursalons in der Stadt. Es folgten die übrigen Geschäfte und Cafés, Restaurants und Bars. Die Supermärkte bieten das Bild eines vom Krieg kaum beschränkten Sortiments. Frische Ware liegt in Regalen, einige Lieferketten sind wieder hergestellt. Die Preise sind für viele Produkte gestiegen. Doch das Einfrieren des Wechselkurses der Landeswährung Hrywna zum Dollar nach Kriegsbeginn hat eine galoppierende Inflation bisher verhindert.
Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko erklärte am 10. März, dass die Hälfte der circa 2,8 Millionen Einwohner aus der Hauptstadt geflohen seien. Genau zwei Monate später sprach Klitschko davon, dass Zweidrittel der Einwohner wieder zurück seien. Auffallend im Straßenbild ist das Fehlen der Kinder. Es sind also in erster Linie Väter ohne ihre Familien und junge Erwachsene ohne Kinder, die Kiew am Laufen halten und den Eindruck eines normalen Großstadtlebens vermitteln. Wie viel Anstrengung das kostet, zumal jeder auch um Angehörige in der Armee oder in den umkämpften und besetzten Landesteilen bangt, lässt sich nur erahnen.