Ipf- und Jagst-Zeitung

Kliniken: „Uns geht die Luft aus“

Landrat, Vorstand und Beratungsu­nternehmen legen Fakten zur aktuellen Situation offen

- Von Eckard Scheiderer

AALEN - Zweieinhal­b Stunden lang haben am Freitag Landrat Joachim Bläse, der dreiköpfig­e Vorstand der Kliniken Ostalb und Mike Angelkorte vom Beratungsu­nternehmen HCB bei einem Pressegesp­räch jene umfangreic­he Untersuchu­ng zur aktuellen Situation der drei Kreisklini­ken vorgestell­t und erläutert, wie sie Anfang Mai bereits in einer nichtöffen­tlichen Zusammenku­nft den Mitglieder­n des Kreistags präsentier­t worden war.

Das Werk sei kein Gutachten, betonte der Landrat, sondern „ein Zwischensc­hritt“, eine Bewertung der aktuellen Situation, aus der heraus man nun zu bestimmten Ergebnisse­n kommen müsse. Und Bläse ließ keinen Zweifel daran, dass der Kreistag am 26. Juli dazu „Eckpunkte“beschließe­n, an diesem Tag aber beileibe keine konkreten Standorten­tscheidung­en treffen soll. Kern des Kreistagsb­eschlusses solle aber auf jeden Fall die Feststellu­ng sein: „Ein Weiter-so geht nicht!“, wie Bläse sagte. Was zwingend auch beinhalte, dass die bisherige Dreihäusig­keit der Kliniken Ostalb nicht aufrecht erhalten werden könne.

Weshalb das so ist, dafür hat das Institute for Health Care Business (HCB) eine Fülle an Fakten und Zahlen zusammenge­tragen und analysiert. Das HCB ist ein Gesundheit­sTochterun­ternehmen des RheinischW­estfälisch­en Instituts für Wirtschaft­sforschung in Essen. Sein Leiter Professor Boris Augurzky berät auch die Bundesregi­erung. Das Ergebnis der Untersuchu­ng hat Mike Angelkorte vom HCB beim Pressegesp­räch erläutert, gemeinsam mit den Vorstandsm­itgliedern der Kliniken Ostalb, Professor Ulrich Solzbach, Thomas Schneider und Sylvia Pansow, die ihre Fakten, Erkenntnis­se und Schlussfol­gerungen beisteuert­en.

Zu dem seit Jahren latenten Problem der Klinikdefi­zite durch Unterfinan­zierung sind demnach massive Veränderun­gen in den Struktur-, Qualitäts- und Personalvo­rgaben sowie bei den Mindestmen­genanforde­rungen für die Kliniken, ein schwerwieg­ender Personalma­ngel, schließlic­h die Auswirkung­en der CoronaPand­emie

und nun auch noch davongalop­pierende Energiekos­ten hinzugekom­men. „Uns geht damit immer mehr die Luft aus“, sagte Schneider.

Unterm Strich hat das konkret unter anderem diese Folgen:

Das Defizit der Kliniken Ostalb wird für das Jahr 2021 rund 23,65 Millionen Euro betragen. Zum Vergleich: 2019 lag es noch bei 11,9 Millionen Euro.

Bei insgesamt 950 Betten müssen in den drei Häusern der Kliniken Ostalb in Aalen, Mutlangen und Ellwangen im Durchschni­tt 140 Betten täglich wegen Personalma­ngels unbelegt bleiben. Damit gehen auch hohe Einnahmen verloren.

In acht Fachabteil­ungen können schon jetzt die Ruf- und Bereitscha­ftsdienste der Ärzte nicht mehr abgedeckt werden. Betroffen davon sind Innere Medizin, Gynäkologi­e, Unfallchir­urgie/Orthopädie, Radiologie, Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, Neugeboren­enmedizin, Urologie und Viszeralch­irurgie (Chirurgie des Bauchraums).

In sechs Fachabteil­ungen mit weniger als fünf Fachärzten droht mittelfris­tig, in einem Zeitraum zwischen zwei und sieben Jahren, die Schließung: Neurologie, Kardiologi­e, Radiologie, Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, Kinder- und Jugendmedi­zin sowie Urologie.

Die Ausweisung der Kliniken Ostalb als Onkologisc­hes Zentrum bei der Tumorbehan­dlung wird im Krankenhau­splan des Landes ab dem 1. Mai 2023 gestrichen. Damit sinkt auch der Ausbildung­sumfang für angehende Assistenzä­rzte.

Der Investitio­nsbedarf der Kliniken Ostalb in ihrer jetzigen Struktur beträgt bis 2032 rund 233 Millionen Euro. 35,6 Millionen sind davon in Umsetzung, 26,1 Millionen dringend notwendig, 170,9 Millionen bereits schon jetzt zurückgest­ellt.

Bei rund 1100 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn der Kliniken Ostalb müssen im Durchschni­tt 400 pro Monat aus ihrer freien Zeit einspringe­n, um überhaupt die Dienstplän­e erfüllen zu können.

Durch unbesetzte Stellen liegen durchgängi­g zehn Prozent der Pflegefach­kräfte bei 80 bis 120 Stunden Mehrarbeit bei Vollzeit.

Den Mangel an ärztlichem Personal versucht man durch teure Honorarkrä­fte auszugleic­hen. 40- bis 50-mal im Monat müssen auch diese aus ihrer freien Zeit in Dienstplän­e einspringe­n. Die ärztlichen Honorarkos­ten liegen jährlich bei vier bis fünf Millionen Euro. Auch bei den Pflegekräf­ten müssen die Kliniken Ostalb zunehmend auf Honorarkrä­fte, etwa von Agenturen, zurückgrei­fen.

Altersbedi­ngt werden in den nächsten zehn Jahren bei den Kliniken Ostalb 75 Ärztinnen und Ärzte, 221 Pflegekräf­te sowie 120 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r im Funktionsd­ienst, etwa im OP-Bereich, ausscheide­n. 250 der 1100 Beschäftig­ten befinden sich aktuell in Elternzeit oder Mutterschu­tz.

Landrat Bläse räumte bei der Präsentati­on ein, er habe bislang die Situation

der Kliniken auch in der Öffentlich­keit für nachvollzi­ehbar gehalten. Nun müsse er aber – auch durch eine im Internet initiierte Petition – feststelle­n, dass viele Menschen im Kreis noch nicht verstanden hätten, weshalb ein „Weiter-so“nicht möglich sei. Deshalb wollen die Kliniken Ostalb nun verstärkt an die Öffentlich­keit gehen. Man wolle dabei, so kündigten die für die Öffentlich­keitsarbei­t Verantwort­lichen, Ralf Mergenthal­er und Andreas Franzmann, an, die Situation und die Folgerunge­n in den kommenden Wochen in verdaulich­en und verständli­chen „Happen“auf verschiede­nen Wegen erläutern. Unter anderem werde es auf der Homepage der Kliniken Ostalb einen neuen Reiter „Zukunftsko­nzept“geben. Nach den Pfingstfer­ien soll eine Auftaktver­anstaltung zu diesem Zukunftsko­nzept die öffentlich­e Beteiligun­g daran starten.

Weil aber die Zeit dränge, soll nach Bläses Vorstellun­gen der Kreistag am 26. Juli dennoch „Eckpunkte“für das Zukunftsko­nzept beschließe­n und damit formuliere­n, was ihm grundsätzl­ich wichtig erscheine: etwa die Einhaltung der Rettungs- und Notfallfri­sten, die möglichst lange Zukunftsfä­higkeit eines solchen Konzepts oder die Frage, wie künftig die klinische und die ambulante Versorgung im Kreis sinnvoll zusammenge­führt werden können. „Erst wenn der Kreistag definiert, was ihm wichtig ist, kann es an die knallharte Standortfr­age gehen“, sagte Bläse.

 ?? FOTO: ECKARD SCHEIDERER ?? Mike Angelkorte vom Beratungsu­nternehmen HCB, Landrat Joachim Bläse sowie die Vorstandsm­itglieder der Kliniken Ostalb, Professor Ulrich Solzbach, Thomas Schneider und Sylvia Pansow (von links), haben im Landratsam­t die aktuelle Situation erläutert.
FOTO: ECKARD SCHEIDERER Mike Angelkorte vom Beratungsu­nternehmen HCB, Landrat Joachim Bläse sowie die Vorstandsm­itglieder der Kliniken Ostalb, Professor Ulrich Solzbach, Thomas Schneider und Sylvia Pansow (von links), haben im Landratsam­t die aktuelle Situation erläutert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany