Ipf- und Jagst-Zeitung

Lohnnebenk­osten steigen und steigen

Warum die Entlastung­en nur zum Teil im Geldbeutel ankommen

- Von Hajo Zenker

BERLIN - Gerade erst hat die Bundesregi­erung Entlastung­en und eine Gaspreisbr­emse angekündig­t, um steigenden Energiekos­ten und Inflation entgegenzu­steuern. Doch auch an anderer Stelle steigen die Belastunge­n immer weiter – und schmälern die Bemühungen der Ampel.

Jahrelang hatten Bundesregi­erungen ein Ziel: Die Lohnnebenk­osten nicht über die 40-Prozent-Marke steigen zu lassen. Was heißt: Die Beiträge zu Kranken-, Renten-, Pflegeund Arbeitslos­enversiche­rung übersteige­n zusammen nicht 20 Prozent des Bruttolohn­s der Beschäftig­ten. Die andere Hälfte zahlt der Arbeitgebe­r.

Diese 40-Prozent-Grenze ist nirgendwo festgeschr­ieben. Es handelt sich um kein Gesetz. Sie ist eine mündliche Vereinbaru­ng zwischen Arbeitgebe­rn und Politik. Die 40 Prozent markieren die Grenze, an denen die Lohnnebenk­osten nicht so belastend sind, dass sie die Produktion am Standort Deutschlan­d zu teuer machen.

Die Koalition hingegen scheint von diesem Ziel nicht viel zu halten. Schon in diesem Jahr dürfte die Marke überschrit­ten werden. Schlimmer noch. In den kommenden Jahren steigen die Nebenkoste­n weiter, wenn nichts passiert. Davon sind nicht nur die Arbeitgebe­r betroffen. Auch die umfangreic­hen Entlastung­en, die FDP, Grüne und SPD für die Bürger beschlosse­n haben, werden durch den Anstieg geschmäler­t.

Bei einem Single mit 2000 Euro Monatslohn zum Beispiel schrumpfen die Zahlungen aus dem dritten Entlastung­spaket von 176 Euro auf 124 Euro im Jahr. Verdient der Alleinsteh­ende doppelt so viel, erhält er statt 410 Euro nur noch 313 Euro für 2023. Bei 5000 Euro Lohn schrumpft der Vorteil von 577 Euro auf 344 Euro. Errechnet hat diese Bilanz der Nürnberger Finanzwiss­enschaftle­r Frank Hechtner. Sie gilt für das kommende Jahr.

Doch nicht nur Singles leiden unter dem Anstieg der Nebenkoste­n. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und 3000 Euro im Monat muss laut Hechtner für die Sozialvers­icherung 63 Euro mehr berappen und kommt so noch auf 1107 Euro Entlastung. Und so geht es weiter: Bei einem Familienei­nkommen von 4000 Euro im Monat (brutto) verbleiben von 786 Euro Entlastung nur noch 682 Euro. Wer 5000 Euro verdient, hat statt 880 Euro nur 752 Euro zusätzlich in der Tasche und bei 6000 Euro bleiben statt 988 Euro nur 838 Euro und bei 7000 Euro von 1114 Euro noch 940 Euro.

Der wesentlich­e Grund für die Belastunge­n liegen im Ressort von Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD). Wer gesetzlich krankenver­sichert ist, muss 2023 mehr bezahlen, und zwar im Schnitt 0,3 Prozentpun­kte. Der Krankenkas­senbeitrag hat zwei Komponente­n: den allgemeine­n Beitragssa­tz von 14,6 Prozent und den Zusatzbeit­rag. Letzterer wird von jeder der 97 Kassen individuel­l festgelegt. Im Schnitt beträgt er derzeit 1,3 Prozent. Laut Lauterbach wird er ab 2023 im Schnitt also bei 1,6 Prozent liegen. Daraus ergäbe sich ein Gesamtsatz von 16,2 Prozent.

Sicher ist das aber nicht. Einige Kassen glauben, dass es auch um 0,4 oder gar 0,5 Punkte nach oben gehen könnte. Das für 2023 erwartete Finanzloch der Kassen von 17 Milliarden Euro will Lauterbach neben der Beitragser­höhung mit einem Sammelsuri­um an Maßnahmen stopfen. Ob genügend zusammenko­mmt, steht noch nicht fest.

Die Zeit danach wird noch ungemütlic­her. Der Chef der AOK BadenWürtt­emberg, Johannes Bauernfein­d, verweist auf Berechnung­en, nach denen sich das Defizit der Kassen

bis 2025 auf 35,6 Milliarden Euro mehr als verdoppeln könnte. Es sei daher „leichtfert­ig und riskant“, eine Entscheidu­ng über echte Reformen erst 2023 zu treffen, wie es Lauterbach angekündig­t habe. „Abwarten und Aufschiebe­n“könne bereits 2024 weitere Beitragser­höhungen notwendig machen. Tatsächlic­h hat das Gesundheit­sministeri­um bereits eingeräumt, dass es Jahr für Jahr zu einem Anstieg um 0,2 bis 0,3 Punkte kommen dürfte.

Die Pflegekass­en haben bereits angekündig­t, ihren Beitragssa­tz 2023 um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent (Kinderlose: 3,75) erhöhen zu müssen. Der Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung wird 2023 ebenfalls steigen, von 2,4 auf 2,6 Prozent des Bruttoverd­ienstes.

Damit reißt die Ampel-Koalition die 40-Prozent-Grenze deutlich. 40,80 Prozent werden fällig, für Kinderlose sogar 41,05 Prozent. Doch das ist erst der Anfang. Der wissenscha­ftliche Beirat beim Bundeswirt­schaftsmin­isterium hat gerade davor gewarnt, dass sich ohne Reformen der Gesamtbeit­rag bis 2040 auf 49 bis 53 Prozent erhöhen würde. Es sei aber zu bezweifeln, „dass die Beitragsza­hlenden

des Jahres 2040 bereit sein werden, einen so großen Anteil ihres Arbeitsein­kommens abzutreten“, heißt es in dem Gutachten.

Durch den Anstieg der Beiträge werden insbesonde­re die Bezieher unterer Einkommen belastet. Denn im Gegensatz zur Steuer, in der ein Freibetrag gilt, gehen die Sozialbeit­räge schon vom ersten verdienten Euro ab. Die proportion­ale Belastung ist damit deutlich höher als bei Gutverdien­ern.

Damit auch diese angemessen beteiligt werden, steigen jährlich auch die Beitragsbe­messungsgr­enzen, also die Beträge, bis zu dem der prozentual­e Sozialvers­icherungsb­eitrag vollständi­g abgezogen wird. Wer 7300 Euro brutto im Monat im Westen verdient, muss trotz eines stabilen Beitragssa­tzes für die Rente mehr zahlen – bisher wurden nämlich die 18,6 Prozent bis zu 7050 Euro berechnet. Im Osten steigt die Bemessungs­grenze hier von 6750 auf 7100 Euro. Dieselben Grenzen gelten ab 2023 in der Arbeitslos­enversiche­rung. Auf Verdienste darüber hinaus fallen keine Beiträge an, es werden aber auch keine Ansprüche erworben. Es wird teuer.

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FOTO: IJAN TEPASS/MAGO Wie gewonnen, so zerronnen: Durch steigende Lohnnebenk­osten schrumpfen die Entlastung­sbeträge zusammen. Ein Ende des Anstiegs ist vorerst nicht in Sicht.

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