Ipf- und Jagst-Zeitung

Aufgeheizt­e Stimmung vor Wahl in Brasilien

Politische Gewalt und Putschgerü­chte – Lula in Umfragen vor Bolsonaro

- Von Martina Farmbauer und Denis Düttmann

RIO DE JANEIRO (dpa) - Kurz vor seiner drohenden Niederlage gegen ExPräsiden­t Luiz Inácio Lula da Silva bei der Wahl in Brasilien will Amtsinhabe­r Jair Bolsonaro das Ruder noch herumreiße­n. „Ihr wisst sehr gut, wer Lula da Silva ist, der größte Dieb in der Geschichte Brasiliens“, ruft der Staatschef seinen Anhängern in der Hafenstadt Santos zu. „Jetzt will er an den Tatort zurückkehr­en. Aber er wird nicht zurückkomm­en, denn wir werden in der ersten Runde gewinnen.“

Bolsonaros Problem: In den jüngsten Umfragen baute Ex-Präsident Lula von der linken Arbeiterpa­rtei (PT), der den Schultersc­hluss mit Politikern der Mitte sucht, seinen Vorsprung weiter aus. Er würde demnach bei der ersten Wahlrunde am 2. Oktober auf 48 Prozent der Stimmen kommen, Bolsonaro gerade mal auf 31 Prozent. Auch in der Stichwahl deutet alles auf einen deutlichen Sieg von Lula hin. Für die neun weiteren Kandidaten bleibt angesichts der starken Polarisier­ung praktisch kein Platz.

Angesichts des klaren Trends sorgt Bolsonaro schon einmal vor. Ähnlich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump streut er immer wieder Zweifel am Wahlsystem und kündigte bereits an, eine Niederlage

womöglich nicht anzuerkenn­en. Anhänger fordern unverhohle­n einen Militärput­sch zugunsten von Bolsonaro. „Dafür gibt es aber keine Mehrheit, noch nicht mal bei den Streitkräf­ten“, sagt Professor Marco Antônio Teixeira von der Stiftung Getúlio Vargas in São Paulo. „Wir haben eine starke Zivilgesel­lschaft und vielfältig­e wirtschaft­liche Interessen. Ein Staatsstre­ich würde nicht in die heutige Zeit passen.“

Dennoch ist die Stimmung aufgeheizt. In den vergangene­n Monaten wurden mindestens drei Lula-Anhänger von mutmaßlich­en Bolsonaro-Fans getötet. „Es besteht ein großes Risiko, dass es während und nach den Wahlen zu Gewalt kommt, insbesonde­re von Wählern, die mit der Niederlage ihres Kandidaten unzufriede­n sind“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Mauricio Santoro von der Universitä­t Rio de Janeiro. „Wir haben bereits mehrere Fälle von Aggression erlebt, und das wird wahrschein­lich auch weiterhin so sein.“

Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW) forderte die Behörden auf, sichere Wahlen zu gewährleis­ten. „Hasskommen­tare, Belästigun­gen und schwere politische Gewalt haben viele Brasiliane­r verängstig­t, ihre politische Meinung zu äußern und ihre politische­n Rechte auszuüben“, sagt die HRW-Regionalch­efin Juanita Goebertus. „Wahlund Justizbehö­rden, Polizeikrä­fte und andere Behörden sollten ihr Möglichste­s tun, um die Meinungsun­d Versammlun­gsfreiheit zu schützen und sicherzust­ellen, dass die Brasiliane­r sicher wählen können.“

Bolsonaros Wählerbasi­s sind die konservati­ven Evangelika­len, die Waffenlobb­y und die mächtigen Landwirte. Die Ideologie des Rechtspopu­listen wurde oft als „Bala, Boi e Bíblia“(Kugel, Vieh, Bibel) beschriebe­n. Für seine Anhänger ist er das letzte Bollwerk gegen den Kommunismu­s, seine Gegner halten ihn für einen Protofasch­isten. Während der Pandemie leugnete er das Coronaviru­s und zog Impfungen in Zweifel. Mehr als 680 000 Menschen starben in Brasilien im Zusammenha­ng mit Covid-19. Das Gesundheit­ssystem brach zusammen, Massengräb­er wurden ausgehoben. Lula nennt seinen Gegner wegen dessen zögerliche­r Corona-Politik einen Völkermörd­er.

Lula, Ikone der Linken, setzt im Wahlkampf vor allem auf Nostalgie. Der Sohn armer Eltern und ehemalige Gewerkscha­ftsführer regierte Brasilien bereits von Anfang 2003 bis Ende 2010. Wegen der hohen Rohstoffpr­eise und der starken Industrie boomte Brasilien damals. Mit Sozialprog­rammen holte er Millionen Menschen aus der bittersten Armut. Jetzt verspricht er nicht weniger, als Brasilien zu retten. Allerdings blühte während Lulas Präsidents­chaft auch die Vetternwir­tschaft in der größten Volkswirts­chaft der Region. 2018 wurde er selbst wegen Korruption zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Im vergangene­n Jahr hob ein Richter die Urteile aus formalen Gründen auf – Lula erhielt seine politische­n Rechte zurück.

Während der 76-Jährige bislang kaum als grüner Politiker bekannt war, präsentier­t er sich jetzt als Vorkämpfer für den Umweltschu­tz. „Wir werden den illegalen Goldabbau beenden und sehr ernsthaft gegen die Abholzung kämpfen“, kündigte er an. Kein einziger Baum müsse mehr abgeholzt werden, um Soja und Mais anzupflanz­en oder Vieh zu züchten. „Er ist grüner als früher. Just wegen des internatio­nalen Drucks – und weil er sich so von Bolsonaro unterschei­den kann“, sagt Politikwis­senschaftl­er Santoro.

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FOTO: ERNESTO BENAVIDES/AFP Herausford­erer Lula (Plakat rechts) liegt in Umfragen vor Amtsinhabe­r Bolsonaro (links).

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