Vom Zeigertelegraf zum Digitalisierer
Vor 175 Jahren beginnt die Geschichte von Siemens – Weg zum Software-Unternehmen
MÜNCHEN/BERLIN (dpa) - Eigentlich könnten am 1. Oktober vier deutsche Dax-Konzerne ihren 175. Geburtstag feiern. Denn dann jährt sich der Gesellschaftervertrag, mit dem Siemens seinen Anfang nahm. Was als Hinterhofwerkstatt für den Bau verbesserter Zeigertelegrafen begann, hilft heute weltweit Unternehmen bei der vierten industriellen Revolution, baut intelligente Infrastruktur und einen Marktplatz für digitale Dienstleistungen. Auf dem Weg dorthin hat sich der Konzern immer wieder gewandelt und dabei drei weiteren Dax-Konzernen auf die Welt geholfen.
Es ist schwierig geworden, Siemens anschaulich zu erklären, denn Digitalisierung und Software für Industrie und Infrastruktur spielen eine immer größere Rolle im Konzern. Und vieles, was man einst mit Siemens verband, wie Handys, Telefone, Kühlschränke oder Kraftwerksturbinen, produzieren die Münchner heute nicht mehr.
Noch am einfachsten ist es bei der kleinsten der drei Kernsparten, Mobility: Züge und Bahninfrastruktur. Sie sind vielleicht der prominenteste direkte Kontaktpunkt zum Otto Normalverbraucher - obwohl die Kunden hier Städte, Konzerne oder ganze Staaten sind. Und auch hier wird es immer digitaler, von vorausschauender Wartung dank Künstlicher Intelligenz (KI) bis zur Vernetzung von Zug-Bestandsmanagement, Reservierung und Fahrkartenverkauf.
Doch das meiste Geld verdiente Siemens zuletzt in seiner Sparte Digital Industries, weit weg vom Verbraucher. Hier geht es um Fabriken und Fertigungslinien und deren Simulation, ums Problemeaufspüren und sie zu beheben, bevor sie auftreten, um die kontinuierliche Überwachung und Optimierung der Produktion – auch in Bezug auf Ressourcenverbrauch und Energieaufwand. Künstliche Intelligenz, digitale Abbilder der Realität und Cloudlösungen sind hier die Werkzeuge. „Wir können die digitalen und realen Welten verbinden wie kein anderes Unternehmen“, betont Konzernchef Roland Busch. Beim schnellen Aufbau von Anlagen für Corona-Impfstoffe hat Siemens etwa mitgearbeitet und realisiert zusammen mit Daimler die Autofabrik der Zukunft.
Und die nächsten Ziele sind schon abgesteckt: Zusammen mit dem Grafikkartenhersteller und Spezialisten bei Chips für künstliche Intelligenz Nvidia will Siemens eine Art Industrie-Metaversum entwickeln und seine digitalen Modelle mit realistischerer Darstellung und Echtzeit-KI von Nvidia kombinieren. Damit werde man der Digitalisierung „buchstäblich eine weitere Dimension erschließen“, schwärmt Konzernchef Busch. „Experten aus der ganzen Welt können dort virtuell zusammenarbeiten als wären sie in einem Raum, und so wesentlich schneller mehr erreichen und das auch nachhaltiger.“
Parallel dazu baut der Konzern unter dem Namen Xcelerator ein Ökosystem auf, in dem nicht nur die eigenen Dienste, sondern auch die von Drittanbietern angeboten und vernetzt werden sollen. Und wer will, muss die Hard- und Software dafür nicht einmal mehr kaufen, sondern kann sie im Komplettpaket als Dienstleistung beziehen.
Inzwischen geht die Hinwendung zum Digitalen manchen schon fast zu weit. „Siemens wird nie ein reines Softwareunternehmen werden“, betonte der IG-Metall-Hauptkassierer und Siemens-Aufsichtsrat Jürgen Kerner im August und drängte darauf, auch in die Produktion in Deutschland zu investieren. Zu den zentralen Stärken von Siemens gehöre, in beiden Welten vertreten zu sein. Dank seiner Hardware sitze der Konzern schon im Maschinenraum der Industrie – dort wo die reinen SoftwareKonkurrenten erst hin wollten.
„Unser Anspruch ist, dass wir uns immer wieder neu erfinden, neue Technologien und Trends antizipieren, agil bleiben und uns nicht auf Erfolgen ausruhen“, sagt Busch. „Wir wollen auch die nächsten 175 Jahre weltweit eine Hauptrolle spielen.“
Dieses Neuerfinden hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur in oft digitalen Vorstößen und einer Betonung von Themen wie Klimaschutz und Ressourcenschonung gezeigt, sondern auch in einem radikalen Umbau. Während andere Unternehmen mit der Corona-Krise kämpften, die Siemens mit erstaunlicher Stabilität wegsteckte, vollendete der Konzern das Projekt Fokussierung.