Ipf- und Jagst-Zeitung

US-Autorin Elizabeth Strout mit Siegfried-Lenz-Preis geehrt

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BONN (KNA) - Ob undercover als Reporter bei „Bild“oder als türkischer Gastarbeit­er – Günter Wallraff ist immer wieder in andere Rollen geschlüpft und hat schreibend gesellscha­ftliche Missstände aufgedeckt. Nun wird er 80.

Manche Menschen kommen zu ihrer Berufung wie die Jungfrau zum Kind. Ein Stück weit trifft das auch auf Günter Wallraff zu. Weil er 1963 den Wehrdienst verweigert­e, wurde der junge Buchhändle­r in die psychiatri­sche Abteilung des Bundeswehr­lazaretts Koblenz eingewiese­n. Über seine Erfahrunge­n als Psychiatri­epatient schrieb er ein Tagebuch – für ihn ein Schlüssele­rlebnis. Seitdem hat er immer wieder Aufsehen mit seinen verdeckten Recherchen erregt. Am 1. Oktober wird der Publizist mit dem ernsten, durchdring­enden Blick 80 Jahre alt.

Schriftste­ller Heinrich Böll ermutigt ihn, dem „Bundeswehr-Tagebuch“weitere Erfahrungs­berichte folgen zu lassen. Wallraff nimmt sich daraufhin vor, „die bundesdeut­sche Wirklichke­it von innen und von unten kennenzule­rnen“. Zwischen 1963 und 1965 arbeitet Wallraff in verschiede­nen westdeutsc­hen Großbetrie­ben; für seine daraus entstanden­en „Industrier­eportagen“erhält er 1968 den Förderprei­s des Landes Nordrhein-Westfalen. Chefs warnen sich derweil vor möglichen Undercover-Besuchen Wallraffs.

Ohne großen Erfolg. Der Autor schafft es immer wieder, verdeckt über Missstände zu berichten. In seinen 1969 erschienen­en „13 unerwünsch­ten Reportagen“befragt er unter anderem als vermeintli­cher Fabrikant getarnt katholisch­e Geistliche, ob es mit dem christlich­en Glauben zu vereinbare­n sei, Napalm zu produziere­n. Mehr als einmal muss sich der investigat­ive Autor für seinen schonungsl­osen Blick hinter die Kulissen vor Gericht verantwort­en. Er rechtferti­gt seine Arbeitsmet­hode mit dem Ziel, „in einer fremden Rolle Sachverhal­te aufzudecke­n, die anders nicht zu erfahren sind“.

Einer seiner größten Coups gelingt ihm 1977, als er vier Monate als Reporter getarnt bei der „Bild“-Redaktion in Hannover arbeitet. Sein folgendes Buch „Der Aufmacher. Der Mann, der bei BILD Hans Esser war“, in dem er dem Blatt unlautere journalist­ische Arbeitswei­sen vorwirft, löst eine Debatte über journalist­ische Standards aus. Auch 25 Jahre später zeigt sich Wallraff in einem KNA-Interview überzeugt: „Bild lenkt durch Vergröberu­ng und Sensations­mache vom Eigentlich­en ab und leistet einer Verblödung Vorschub.“

Großes Aufsehen erregt auch sein Buch „Ganz unten“(1985), für das er als Hilfsarbei­ter Ali über Subunterne­hmen Jobs übernimmt – unter anderem bei McDonald's, auf einer Großbauste­lle und als Versuchska­ninchen bei einem Medikament­enversuch. Neben Beschimpfu­ngen und Klagen durch betroffene Unternehme­n hat die Recherche zur Folge, dass Gesetze und Sicherheit­sbestimmun­gen bei Subunterne­hmern verschärft werden. Das Thema beschäftig­t Wallraff noch immer. Erst 2020 meldet er sich zu Wort in der Diskussion um den menschenun­würdigen Umgang mit Werkvertra­gsarbeiter­n im Schlachtho­f Tönnies.

Noch immer ist ihm das Aufdecken unmenschli­cher und illegaler Praktiken in der Arbeitswel­t ein Anliegen. Im RTL-Format „Team Wallraff – Reporter undercover“, 2014 mit dem Deutschen Fernsehpre­is für die beste Reportage ausgezeich­net, begleitet er junge Journalist­en beim Aufdecken von Missstände­n.

Der unbequeme Journalist wurde für seine Arbeit und sein Engagement für Menschenre­chte, bessere Arbeitsbed­ingungen und Pressefrei­heit mehrfach ausgezeich­net. So ist er Träger des Hermann-Kesten-Preises 2021, der sich für verfolgte Journalist­en einsetzt. 2019 erhielt er den Hans-Böckler-Preis seiner Heimatstad­t Köln. Seit 2015 verleiht die Initiative

Nachrichte­naufklärun­g den nach ihm benannten Günter-Wallraff-Preis für Journalism­uskritik, zuletzt an Wikileaks-Gründer Julian Assange.

Ob es noch Bereiche gibt, die ihn zur Undercover-Recherche reizen? 2012 verriet Wallraff einer italienisc­hen Zeitung, dass er sich gerne einmal unter falscher Identität in den Vatikan einschmugg­eln möchte.

In einem Deutschlan­dfunk-Interview ließ Wallraff jüngst auch nachdenkli­che Töne anklingen. Viele seiner Aktionen seien durch Zufälle und das Zusammentr­effen mit Menschen entstanden. „Ist so etwas Zufall? Ich bin ja Agnostiker. Und inzwischen, wenn ich so zurückblic­ke, ist das alles Zufall? Ich weiß es nicht, ich muss aufpassen, dass ich nicht am Ende noch zum gläubigen Menschen werde.“

HAMBURG (dpa) - Die US-amerikanis­che Schriftste­llerin Elizabeth Strout hat am Freitag im Hamburger Rathaus den mit 50 000 Euro dotierten Siegfried-Lenz-Preis erhalten. Strout, 1956 in Portland geboren, sei „eine herausrage­nde Erzählerin, die es versteht, mit wenigen Strichen das Panorama von Kleinstädt­en mit all ihren provinziel­len Beschränku­ngen zu entfalten“, teilte die Siegfried-Lenz-Stiftung mit.

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FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Der Investigat­ivjournali­st Günter Wallraff wird am 1. Oktober 80 Jahre alt.

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