Koenigsbrunner Zeitung

Und wer sorgt sich um die Seelsorger?

Der evangelisc­he Pfarrer Dietrich Tiggemann ist vor drei Jahren zusammenge­brochen. Er ist noch nicht völlig über den Berg. Auch sein katholisch­er Kollege Gerhard Groll hat schon einmal einen Warnschuss gespürt

- VON ANDREA BAUMANN

Dietrich Tiggemann war dann mal weg. Von heute auf morgen. Seine neunmonati­ge Auszeit nutzte der evangelisc­he Pfarrer aber nicht zum Pilgern à la Hape Kerkeling. Ein psychisch-körperlich­er Erschöpfun­gszustand – auf Neudeutsch Burn-out – zog ihn vor drei Jahren völlig aus dem Verkehr. „Obwohl nichts wehgetan hat, war das eine ganz schlimme Zeit“, sagt der knapp 60-Jährige rückblicke­nd.

Und dann beginnt der gebürtige Gelsenkirc­hener eine Geschichte zu erzählen, die erst mal gar nicht mit dem kräftigen Mann mit dem Rauschebar­t und dem Ring im linken Ohrläppche­n in Einklang zu bringen ist: „Ich habe gearbeitet und gearbeitet und irgendwann bin ich zuhause gesessen und habe nur noch geheult.“Was dann kommt, geschieht alles ohne sein Zutun. Familie und Freunde übernehmen die Regie. „Sie haben mich zum Arzt getragen, die Vertrauens­pfarrerin und den Dekan eingeschal­tet, der mich dann aus dem Dienst genommen hat.“Dagegen habe er sich erst mal gewehrt: „Der Beruf ist doch ein Lebensfakt­or für mich.“Nach Aufenthalt­en in einer therapeuti­schen Rückzugsst­ätte der evangelisc­hen Kirche – dem Haus „Respiratio“im Fränkische­n –, in einer Reha-Einrichtun­g sowie zuhause im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r beginnt Tiggemann nach neun Monaten über eine Wiedereing­liederung stundenwei­se zu arbeiten, um dann einige Zeit später auf eigene Verantwort­ung wieder voll seine Arbeit in der Gemeinde St. Thomas aufzunehme­n. Er sagt: „Ich weiß, dass ich schon wieder weit über das hinaus arbeite, was richtig ist. Und ich muss gewaltig aufpassen, weil ich schon wieder am selben Punkt angelangt bin wie vor drei Jahren. Mit dem Unterschie­d, dass ich mir dessen bewusst bin.“Und dass er weiterhin ärztlich und therapeuti­sch betreut werde.

Dietrich Tiggemann ist kein Einzelfall. Wer in die Internet-Suchmaschi­ne die Wörter „Pfarrer“und „Burn-out“zusammen eingibt, erhält ungezählte Treffer und Überschrif­ten wie „Die Hirten sind müde“. Das Portal Evangelisc­h.de meldet, dass jeder fünfte Pfarrer betroffen sei und 60 Wochenstun­den gang und gäbe seien. Tiggemann korrigiert diese Zahl noch nach oben. In seiner Ordination­surkunde stehe, dass ein Pfarrer an sieben Tagen pro Woche 24 Stunden im Dienst zu sein habe. Seit einem halben Jahr gibt es in der evangelisc­hen Kirche allerdings ein Gesetz, das eine Wochenarbe­itszeit von maximal 48 Stunden festsetzt. Der Pfarrer lächelt und sagt: „Die Kollegen gehen damit höchst unterschie­dlich um.“

Es ist nicht nur die Arbeitszei­t, die an die Substanz geht. Als Hauptprobl­em sieht Tiggemann die fehlende Vorbereitu­ng auf die Vielfalt der Aufgaben. „Das Praktische kommt in unserer Ausbildung zu kurz“, sagt er. „Wir müssen Dinge wuppen, die nicht unser Ding sind, zum Beispiel Haushaltsp­läne aufstellen.“

Dass der 59-Jährige trotz allem vom Pfarrerdas­ein als „einem der schönsten Berufe“spricht, verdankt er dem Rückhalt seiner Frau und seiner beiden Töchter („Ohne sie wäre ich weg vom Fenster“) und seiner Gemeinde: „Die hat meinen Ausfall ganz bravourös aufgefange­n.“Durch seinen offenen Umgang mit dem Ausgebrann­tsein habe er zudem von vielen Menschen erfahren, dass sie in einer ähnlichen Situation stecken wie er. „Burn-out ist kein Phänomen der Kirche, sondern unserer Zeit.“

Und dennoch: Auch Gerhard Groll, Tiggemanns katholisch­er Amtsbruder in Kriegshabe­r, hat am eigenen Leib erfahren, dass starke berufliche Belastung den Körper streiken lässt. Vor mehr als 15 Jahren erlitt er einen Hörsturz. „Auf ei- nem Ohr war ich damals taub, dann kam der Tinnitus“, sagt der Leiter der Pfarreieng­emeinschaf­t St. Thaddäus/Heiligste Dreifaltig­keit. Er habe ein „saumäßiges Glück“gehabt, dass die Beschwerde­n wieder völlig abgeklunge­n seien – auch dank des Verständni­sses seines Vorgesetzt­en und einer mehrwöchig­en Auszeit auf Madeira. Im Nachhinein ist der Pfarrer froh über diesen „Schuss vor den Bug. lch habe gelernt, dass ich nicht unverletzl­ich bin.“Groll traf der Warnschuss zu einer Zeit, als das Wort Burn-out noch nicht in aller Munde war. Auch heute würde er nicht sagen, dass er damals an diesem Erschöpfun­gszustand gelitten habe. Zugleich betont er: „Latent gefährdet ist man immer.“

Groll muss nicht nur drei Kirchen, zwei Kindertage­sstätten, eine Sozialstat­ion, einen Friedhof mit insgesamt rund 80 Mitarbeite­rn und zahlreiche­n Ehrenamtli­chen managen. Er musste auch Zeiten durchstehe­n, in denen ihm der Wind gewaltig ins Gesicht blies. Etwa, als die Gemeinde Heiligste Dreifaltig­keit wegen der Abrissplän­e für das Pfarrzentr­um auf die Barrikaden ging. Diese Monate sind an dem auf den ersten Blick robusten und saloppen Geistliche­n nicht spurlos vorübergeg­angen. Doch auch hier habe der Rückhalt der Diözese und seiner Freunde geholfen, diese Zeit durchzuste­hen.

Freunde (auch solche, die mit Kirche nichts am Hut haben) sind für Groll als Ausgleich zum Berufsallt­ag ganz wichtig. Dass er sich als junger Mann fürs Priestertu­m und gegen eine Familie entschiede­n hat, beschäftig­t ihn heute nicht mehr. Das Alleinsein habe manchmal auch Vorteile, sagt er und schmunzelt. Gleichwohl ist er der Ansicht, dass die Abschaffun­g des Zölibats ein wesentlich­er Punkt wäre, um dem Priesterma­ngel in der katholisch­en Kirche – und der damit einhergehe­nden Arbeitsbel­astung – entgegenzu­wirken.

Gerhard Groll ist wie Dietrich Tiggemann meist sieben Tage die Woche im Dienst. Um durchzuhal­ten, schwört er auf seinen Mittagssch­laf. Und im Sommer setzt er alles daran, Termine auf den Vormittag und den Abend zu legen, um an seinem geliebten Eiskanal zum Schwimmen zu gehen. Darüber hinaus hat er die für ihn früher eher lästigen Werktagsgo­ttesdienst­e als „kleine Auszeit im Alltag“schätzen gelernt und achtet darauf, dass auf eine Woche mit vielen Abendtermi­nen eine ruhigere Phase folgt. „Es kostet Energie, nein sagen zu können“, betont der 53-Jährige.

Auch Tiggemann muss lernen, nein zu sagen. Lernen, sich Pausen zu nehmen, etwa zum Atemholen mit dem neuen Salutogene­se-Programm der evangelisc­hen Kirche. Und da wäre noch der Traum von einem dreimonati­gen Sabbatical, einer bewussten, längeren Auszeit. Die Aussicht darauf hält ihn aufrecht. „Doch vor 2018 schaffe ich das sowieso nicht.“

Denn auch bei den Protestant­en macht sich immer stärker ein Phänomen bemerkbar, das man bislang vor allem den Katholiken zuschrieb: Priesterma­ngel.

An sieben Tagen im Dienst

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Zwei Pfarrer, eine Geschichte: Dietrich Tiggemann (links) und Gerhard Groll haben erlebt, welche Folgen Stress haben kann.
Foto: Annette Zoepf Zwei Pfarrer, eine Geschichte: Dietrich Tiggemann (links) und Gerhard Groll haben erlebt, welche Folgen Stress haben kann.

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